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Welt aus Mauern
Grenzen prägen unsere Welt – doch Mauern offenbaren weniger Stärke als politische Ohnmacht
Am Anfang steht der Zaun. Tief und begriffsbestimmend durchwirken Zaun, Hegung, Grenze die von Menschen geformte Welt.» Mit viel Pathos erklärte der Sprachwissenschaftler Jost Trier 1943 das Zaunsetzen zur Wiege der Kultur. Jean-Jacques Rousseau sah in der Grenzziehung ebenfalls den Gründungsakt der bürgerlichen Gesellschaft. Grenzen markieren Souveränität, sie signalisieren «Bis hierher und nicht weiter» und zeigen Macht- und Zugriffsräume an. Schiere Grenzenlosigkeit wie die Unendlichkeit des Alls übersteigt hingegen unser Vorstellungsvermögen. Wir imaginieren sogar noch eine Schallmauer im Himmel.
Im Zuge der gestiegenen Fluchtmigration seit 2015 wurde auch diese Imagination der Grenzen wieder zentraler: Die «Menschenströme» und «-fluten» werden als Bedrohung empfunden; allein aufgrund dieser Semantik drängen sich Konzepte des Eindämmens auf. Der Mauerbau gerät wieder zum Symbol für Handlungsfähigkeit. Dieser Wunsch nach dem Schutz territorialer Ränder beruht auf einer Vorstellung von Landesgrenzen, die keinesfalls universell ist, sondern in der Entstehung der Nationalstaaten geformt wurde.
Grenzen als soziale Praxis
Während das Englische mit Limit, Border und Frontier differenziert, ist der Begriff der Grenze im Deutschen eher unscharf bestimmt. So kann Grenze mal den konkreten Schlagbaum meinen, aber auch abstrakter Limit oder Trennlinie bedeuten. Grenzen entspringen grundsätzlich dem Wesen der Vernunft: Um die Welt erfassen zu können, braucht es Differenzierung. Entsprechend wurden im Verlauf der Menschheitsgeschichte die Dinge in der Welt klassifiziert; Pflanzen und Tiere wurden voneinander abgegrenzt und erhielten Namen, Flurbezeichnungen schafften Orientierung.
Diese Funktion übernehmen nicht zuletzt auch Mauern. Weil die Grenze Ergebnis sozialer Praxis und nicht natürlich gegeben ist, muss sie materiell realisiert werden, etwa durch Marksteine. In vielen Gesellschaften vergewisserte man sich der Grenzen kollektiv, indem die Bewohner*innen benachbarter Dörfer jährlich die Grenzen zwischen ihren Feldern in einer feierlichen Prozession abschritten.
Grenzen fungierten früher eher als Säume und Transitregionen. Häufig waren sie permanent in Unruhe.
Die klar gezogene Demarkationslinie zwischen Staaten ist bis in die moderne Zeit in doppeltem Sinne eine Randerscheinung: Von Ausnahmen wie dem Hadrianswall in Großbritannien abgesehen, stellte die abgeschlossene, abschottende, ja vermauerte Territorialgrenze über lange Zeit den historischen Sonderfall dar. Frühere Grenzziehungen lagen nicht mit derselben Absolutheit wie in der Moderne als Linien in der Landschaft. Grenzen fungierten eher als Säume und Transitregionen, sie waren Zonen zwischen Einflussbereichen. Häufig waren sie permanent in Unruhe durch Inanspruchnahme der einen oder anderen Seite, konnten als Niemandsland auch ein Puffer sein.
Fließende Übergänge und harte Linien
Der kontrollierten Durchlässigkeit diente gleichfalls jenes Mauer-Palisaden-Werk der alten Welt, das bis in die gegenwärtige Krisenzeit hinein beschworen wird: der Limes. Obwohl auch andere Grenzregionen des Römischen Reiches so bezeichnet wurden, ist der Begriff gemeinhin nur für die Sperranlage im deutschsprachigen Gebiet gebräuchlich. Über eine Strecke von 550 Kilometern wurde der Obergermanisch-Rätische Limes zwischen Taunus, Schwäbischer Alb und Mittelfranken aus Mauern, Palisaden und Kastellen errichtet. Statt hermetischer Sperrriegel gegen germanische Raubzüge zu sein, war er Trenn- und Kontaktzone in einem.
Dass die Römer einen speziellen Namen für die Grenze und ihre Befestigung hatten, ist nicht überliefert. Seinem Selbstbild nach war das Römische Reich unendlich – die Stadt Rom wurde mit dem Erdkreis gleichgesetzt. Daher steckte der Limes vor allem juristische Geltungsbereiche für bislang gewonnene Gebiete ab und markierte die Zone für Transit und Austausch von römischer und germanischer Gesellschaft.
Im Deutschen ist der Begriff «Grenze» erst seit dem 13. Jahrhundert belegt. Bis in die Frühe Neuzeit hinein verwendete man stattdessen «Mark», was Grenzland bedeutete und beispielsweise noch im Namen der Region Altmark enthalten ist. Der Übergang in den Begriffen spiegelt einen Übergang in der Ausgestaltung und Bedeutung von Grenzen wider. Allmählich traten die territorialen Gebietsscheiden als Linien hervor, was auch mit einer Lockerung feudaler Verbindlichkeiten zusammenhängt: Das Beamtentum mit festen Wirkbereichen löste die Eidesbande der Feudalgesellschaft ab. Die Ländereien begannen sich reißbrettartig voneinander abzuzirkeln, und die moderne Staatenwelt nahm langsam Gestalt an. Um die vertraglich festgelegten Gebiete voneinander abzugrenzen, kam das Lehnwort «Grenze» in Gebrauch. Es stammt vom polnischen «graniza» ab, was «spitz» und «hervorragend» bedeutet.
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Vor allem das 19. Jahrhundert ist ein Jahrhundert der Grenzziehungen. Mehr als 70 Prozent der heutigen Staatsgrenzen wurden zwischen 1885 und 1910 festgelegt. Mit der Gründung des Deutschen Reiches etwa verschwand der kleinstaatliche Flickenteppich – und mit diesem unzählige Zoll- und Außengrenzen. Die Kolonialmächte wiederum teilten Afrika erbarmungslos am grünen Tisch untereinander auf. Ihr willkürliches Vorgehen mit dem Lineal kann man noch heute an der strengen Form mancher afrikanischen Grenze erkennen. Daraus resultierten viele bis in die Gegenwart bestehende Konfliktherde.
Neben dem Limes gibt es noch eine andere Mauer, die unsere Vorstellungen über die abschottende Funktion der Grenze Ausdruck verleiht: die Chinesische Mauer. Allerdings stilisierte erst Mao diese zum Zeugnis kollektiver Leistungsfähigkeit im Systemstreit sowie zum Symbol der nationalen Einheit angesichts 56 ethnischer Gruppen. Tatsächlich entstanden die Teile der Chinesischen Mauer zu unterschiedlichen Zeiten und aus unterschiedlichen Gründen, mal sollten sie defensiven, mal repräsentativen Zwecken dienen. Heute präsentiert sie sich Touristen als perfekt in die Landschaft eingefügtes Einzelbauwerk.
Das Paradox des Mauerbaus
Mauern sollen Zeichen der Stärke sein, kaschieren aber nicht selten politische Handlungsunfähigkeit und Ohnmacht. Angesichts der weltumspannenden digitalen Möglichkeiten und der damit gleichfalls gestiegenen Verletzlichkeit können Mauern kaum mehr überzeugen. Weltweiter Schmuggel, Börsenschwankungen, Klimawandel, Rohstoffknappheit und Wissenstransfers lassen sich mit dem Bau von Mauern nicht in den Griff bekommen.
«Die Regierung kontrolliert nicht die Grenze, sie kontrolliert, was Amerikaner über die Grenze denken», zitiert die Politikwissenschaftlerin Wendy Brown einen US-Rancher. Ihr Buch «Walled States, Waning Sovereignty» – Ummauerte Länder, schwindende Souveränität – enthält zahlreiche Beispiele hilfloser Mauerbau-Gesten. «Eine Mauer zu bauen war der am wenigsten zerstörerische Weg, nichts zu tun, während man vorgab, etwas zu tun», lässt Brown einen indischen Ökonomen über Indiens Plan zu Wort kommen, sich gegen Migrant*innen aus Bangladesch abzuschotten. Seit 1989 existiert entlang der Grenze ein 4000 Kilometer langer mit Stacheldraht bewehrter Zaun – die längste Grenzbefestigung der Welt.
Für Brown beinhalten diese neuen Mauern ein Paradox. Denn was auf den ersten Blick wie der handfeste Ausdruck von Staatssouveränität erscheine, bezeuge eigentlich den Niedergang der staatlichen Selbstbestimmtheit im Verhältnis zu anderen globalen Kräften.
Die Lösungskompetenz des Mauerbaus ist allenfalls mittelfristig erfolgreich. Die Berliner Mauer stand 28 Jahre – lange, gemessen an einem Menschenleben; im Verhältnis zur menschlichen Geschichte ein bloßer Wimpernschlag. Die meisten historischen Mauern wurden überrannt oder eingerissen. «Zeig mir eine 50 Fuß hohe Mauer, und ich zeige dir eine 51 Fuß hohe Leiter», brachte die US-amerikanische Politikerin Janet Napolitano die Ineffektivität von Grenzmauern auf den Punkt.
Viele hängen dem Versprechen der Mauer an, was sich in ihrer Symbolkraft begründet. Doch es braucht komplexere Lösungen für komplexe Probleme.
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