Unbekannte unter unseren Füßen

In Boden und Grundwasser leben jede Menge bislang unbeschriebene Arten. Eine Forschungsinitiative will sie katalogisieren

Der Dunkelbraune Kugelspringer gehört zu den größeren unter den Bodentieren und schaffte es 2016 sogar schon zum Titel »Insekt des Jahres«.
Der Dunkelbraune Kugelspringer gehört zu den größeren unter den Bodentieren und schaffte es 2016 sogar schon zum Titel »Insekt des Jahres«.

Der Vater der modernen Taxonomie, Carl von Linné, beschrieb im Laufe der zwölf Auflagen des »Systema Naturae« etwa 7700 Pflanzen- und 6200 Tierarten. Heute hat sich die Zahl der beschriebenen Arten weltweit auf über zwei Millionen vervielfacht. Trotz besserer technischer Hilfsmittel ist der größere Teil der Arten auf dem Planeten Erde noch immer unbekannt.

Die nicht klassifizierten Arten verstecken sich nicht nur in schwer zugänglichen Regionen wie tropischen Wäldern, sondern auch auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, wo es eine gut ausgestattete Forschungsinfrastruktur gibt. Dabei wächst die Zahl der als gefährdet eingestuften Arten stetig. »Von den 72 000 bekannten in Deutschland heimischen Tier-, Pflanzen- und Pilzarten wurden bislang erst 40 Prozent auf die Gefährdung der Population hin untersucht. Von diesen Arten ist fast ein Drittel bestandsgefährdet«, lautete im Oktober 2024 eines der Ergebnisse der Erhebung »Faktencheck Artenvielfalt«.

Tatsächlich dürften in Deutschland weit mehr als 72 000 Arten vorkommen. Ein Zusammenschluss renommierter Forschungsinstitute möchte die Wissenslücken in puncto Artenvielfalt schließen. In einer Studie im Fachjournal »npj Biodiversity« schreiben Forschende der beteiligten Institute: »Hier stellen wir die Initiative ›Unbekanntes Deutschland‹ vor: ein Konsortium aus Forschungsinstituten, Naturkundemuseen und naturkundlichen Sammlungen sowie unabhängigen Experten. Diese Allianz wird modernste Technologien mit umfassendem taxonomischem Fachwissen, Citizen-Science-Projekten und Öffentlichkeitsarbeit verbinden, um innerhalb eines überschaubaren Zeitraums eine umfassende Bestandsaufnahme der biologischen Vielfalt zu erreichen.«

Am Ende dieses Prozesses könnte ein öffentlich zugänglicher Artenkatalog stehen. »Man kann keinen richtig fundierten Artenschutz betreiben, solange man die Arten einfach nicht kennt«, skizziert Leitautorin Ricarda Lehmitz das Grundproblem. Dabei gebe es Lebensräume, über deren Arten bisher besonders wenig bekannt ist, erklärt die Biologin. Das seien etwa der Boden, die Sedimente von Nord- und Ostsee, die Baumkronen oder das Grundwasser.

Lehmitz’ Forschungsgebiet ist die Bodenzoologie, im Boden lebende Hornmilben. Um die zu bestimmen, muss einiger Aufwand betrieben werden. »Man kann die Tiere da schlecht einfach sehen und heraussammeln«, erklärt Lehmitz. Das heißt, um Bodenlebewesen identifizieren zu können, braucht es Hilfsmittel. So lassen sich mit einer speziellen Apparatur Bodenproben von einer Seite erwärmen und von der anderen kühlen. »Die Bodentiere lieben es eher kühl und feucht und wandern dann in der Bodenprobe zur tieferen Temperatur, bis sie am Ende in ein Sieb fallen«, sagt Lehmitz. Anschließend können sie unter dem Mikroskop bestimmt werden – sofern sie denn schon bekannt sind.

Bei »Unbekanntes Deutschland« heißt es: »Ein Teelöffel Boden enthält Tausende Arten und mehr Lebewesen als es Menschen auf unserer Erde gibt.« Auch deren Ökosystemfunktionen sind bis jetzt nur unzureichend untersucht.

Es gibt jedoch Hinweise, erklärt Lehmitz, etwa die Gestalt der Mundwerkzeuge von Fadenwürmern, die darauf schließen lassen, wovon sich diese ernähren. Darüber hinaus ließen genetische Analysen Rückschlüsse auf die Funktionen der jeweiligen Lebewesen im Ökosystem zu.

Das weltweite Wissen über Bodentiere spiegelt sich heute schon in der Datenbank Edaphobase, die vom Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz entwickelt wurde. Dort lässt sich beispielsweise nachschauen, wo verschiedene Bodentiere wie Springschwänze, Fadenwürmer oder Milben nachgewiesen wurden. Und auch die Umweltbedingungen, unter denen sie gefunden wurden, wie der pH-Wert oder die Feuchtigkeit des jeweiligen Bodens.

Idealerweise ließe sich anhand von naturbelassenen Böden ein Referenzzustand bestimmen, der besagt, welche Artenzusammensetzung auf einem bestimmten Bodentyp mit einer bestimmten Vegetation vorkommt. Damit könnten andere Bodenproben verglichen werden. »Über den Vergleich mit dem Referenzzustand kann man dann herausfinden, ob es dem Boden gut geht oder nicht«, sagt Lehmitz.

Doch während Wissenschaftler*innen auf der einen Seite dabei sind, die Biodiversität bestimmter Lebensräume erst zu erfassen, könnte diese auf der anderen Seite bereits im Schwinden begriffen sein. Diese Dynamik soll das Projekt TrenDiv untersuchen, das einen Teil der Forschungsinitiative bildet. Dort werden Standorte beprobt, die bereits vor 25 bis 45 Jahren auf ihre Biodiversität hin untersucht wurden. Zu den Daten, die hier zugrunde gelegt werden, gehört auch die berühmte »Krefelder Studie« von 2017, die einen starken Rückgang der Insektenbiomasse zwischen 1989 und 2016 nachgewiesen hatte.

Zwar konnte damals mit dem Einfangen von Fluginsekten in sogenannten Malaise-Fallen der Rückgang ihrer Biomasse festgestellt werden, über die Artenzusammensetzung weiß man jedoch nach wie vor reichlich wenig.

Das gilt nicht nur in abgelegenen Naturschutzgebieten, sondern auch mitten in einer Großstadt wie Berlin. Im Projekt »Unknown Berlin« des Museums für Naturkunde Berlin wurden Malaise-Fallen an insgesamt neun Standorten in der Stadt aufgestellt, von stark verbauten Innenhöfen in Kreuzberg bis zu waldnahen Peripheriegebieten. »Schon die ersten Auswertungen zeigen mehrere bemerkenswerte Ergebnisse«, schreibt Projektleiter Rudolf Meier auf nd-Anfrage, und: »Ein einzelner städtischer Innenhof in Kreuzberg kann der Lebensraum von über 750 Arten sein.« Die unbekannte Fauna bestehe zum größten Teil aus Insekten, die kleiner als fünf Millimeter seien. »Viele Arten sind fast nicht bestimmbar. Das gilt selbst für sehr häufige Arten. Sie gehören zur ›dunklen Materie‹ in der Biologie. Biologisch außerordentlich wichtig, aber unbekannt«, erklärt Meier.

Ricarda Lehmitz hofft, in zehn Jahren mit der Inventur der Arten in Deutschland ein erhebliches Stück weiter zu sein, zumindest, was Insekten, Bodentiere und mehrzellige Organismen der Meeressedimente angeht. Bei den Bakterien und Mikropilzen werde es wahrscheinlich länger dauern.

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