Gedenken durch Verstehen

Die Erforschung von Risikofaktoren und Krankheitsverläufen bei Covid-19 ist auch eine Verpflichtung gegenüber den Corona-Toten

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 4 Min.

In Europa hat die Zahl der Corona-Toten seit Beginn der Pandemie gerade die Schwelle von einer Million überschritten. In den 52 Ländern und Territorien des Kontinents wurden bis Montagabend insgesamt 1 000 288 Todesfälle von Corona-Infizierten registriert, wie die Nachrichtenagentur AFP auf Grundlage von Behördenangaben errechnete. Insgesamt wurden knapp 46,5 Millionen Ansteckungen in Europa nachgewiesen. Europa ist die Region mit der höchsten Opferzahl der Pandemie, gefolgt von Lateinamerika mit 832 577 Toten und Nordamerika mit 585 428 Todesopfern. In Asien starben bislang 285 824 Infizierte. Innerhalb Europas findet sich Deutschland mit aktuell fast 80 000 Menschen, die an oder mit Covid-19 verstarben, nach Großbritannien (127 100), Italien (114 612) und Russland (103 263) auf Platz vier.

In der Öffentlichkeit spielen die Toten der Pandemie nur eine untergeordnete Rolle. Von medizinischer Seite werden diese Fälle zwar auch als berufliche Niederlage oder Covid-19 als noch zu wenig verstandene und beherrschbare Krankheit reflektiert. Jedoch gilt der größere Teil der Aufmerksamkeit zuerst der Versorgung der Patienten. Aktuell sterben nicht nur Covid-19-Patienten in den Krankenhäusern oft ganz allein. Beerdigungsgottesdienste und -feiern sind nur stark eingeschränkt möglich, was zusätzlich dazu beiträgt, die Toten der Pandemie weniger wahrzunehmen. Verschiedene Gedenkveranstaltungen am 18. April unter der Ägide des Bundespräsidenten wie auch der Kommunen sollen dazu beitragen, das zu verändern.

Inzwischen sinkt das Durchschnittsalter der Patienten auf den Intensivstationen (ITS), auch wegen der wachsenden Zahl geimpfter Menschen im hohen Alter. Jedoch berichten die Kliniken, dass die neu aufgenommenen Fälle in diesen Wochen zum Beispiel nicht erst auf einer Covid-19-Normalstation versorgt werden können, sondern direkt in eine ITS aufgenommen werden müssen - anders als in der ersten und zweiten Welle der Pandemie.

Vermutlich wird auch dieses Geschehen Konsequenzen haben: Denn trotz inzwischen gewonnener Erkenntnisse zur besseren Versorgung auch der Schwerkranken sterben nach Aussagen von Christian Karagiannidis, Präsident des Intensivmedizinerverbandes Divi, die Hälfte der ITS-Patienten mit Beatmung und auch ein Viertel derjenigen auf den ITS, die nicht beatmet werden müssen.

Eine weitere Fragestellung in diesem Zusammenhang ist das Phänomen der Übersterblichkeit, auch Exzess-Mortalität genannt. Sie gibt an, wie viel mehr Menschen im Vergleich zum Durchschnitt der Vorjahre gestorben sind. Mit der Ausbreitung des Coronavirus ist auch hierzulande die Anzahl der Todesfälle gestiegen. Von Ende März bis Anfang Mai 2020 starben mehr Menschen als im Schnitt zur selben Zeit in den vergangenen Jahren; teilweise werden auch die höchsten Werte der letzten Jahre übertroffen, in die auch die hohe Zahl der geschätzten Influenza-Toten der Saison 2017/18 aufgenommen wurde. Werden andere Zeiträume betrachtet, sinkt die Zahl der Verstorbenen jedoch wieder unter frühere Durchschnittswerte.

Erhöhte Werte lassen sich für bestimmte Ballungsräume oder auch für Altersgruppen beobachten, zum Beispiel in Deutschland für Menschen über 65 Jahren fast durchgängig von April 2020 bis Januar 2021. Letztlich kann die Frage nach der nationalen Übersterblichkeit endgültig nur nach dem Ende der Pandemie und dem weitgehenden Rückgang der Todesfälle, beantwortet werden.

International untersuchen Forscher die Besonderheiten von Covid-19. Ärzte in Kliniken ziehen vor allem aus dem Krankheitsverlauf Schlussfolgerungen: Welche Menschen sind besonders anfällig dafür, schwer zu erkranken, lautet eine Frage. Beispielhaft sei dazu eine Studie aus den USA erwähnt, in der 900 000 Krankenhausaufenthalte untersucht wurden, die bis Mitte November 2020 auf Covid-19 zurückzuführen waren. Bei 30 Prozent der Betroffenen ließ sich Übergewicht nachweisen, bei 26 Prozent Bluthochdruck, bei 21 Prozent Diabetes, und 12 Prozent hatten eine Herzinsuffizienz. In Kombination ergibt das laut einer Modellberechnung der Forscher 64 Prozent schwere Verläufe, die zu verhindern gewesen wären, etwa durch eine gesündere Lebensweise. Die Patienten hätten sich zwar infiziert, ein Klinikaufenthalt wäre aber unnötig gewesen.

Ähnliche Befunde liegen auch für Deutschland und Europa vor. Obduktionen können zusätzlich helfen, Unsicherheiten in Bezug auf den Krankheitsverlauf, Ursachen und Risikofaktoren zu klären. An diesen Themen zu arbeiten, ist eine der grundsätzlichen Verpflichtungen gegenüber den Menschen, die an Covid-19 gestorben sind.

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