»Eigentlich wäre es total clever, jetzt zu streiken«

Fehlende Abstände, zunehmende Aggression, unfaire Einkommen: Verkäuferin Farina Kerekes über Einzelhandelsbeschäftigte in der Pandemie

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 6 Min.

Die dritte Coronawelle hat Deutschland fest im Griff. Wie ist derzeit die Lage für die Beschäftigten im Einzelhandel?

Wir sind alle müde und haben keinen Bock mehr.

Interview
Farina Kerekes (30) arbeitet seit zwölf Jahren als Verkäuferin. Sie wohnt im Ruhrpott und kämpft dort für die Rechte der Beschäftigten im Handel. Im Frühjahr 2020 initiierte sie die Online-Petition »Wir sind mehr wert als ein Danke! Der Handelsaufstand beginnt jetzt!«. Diese ist unter www.tinyurl.com/2bp8p4nx zu finden. Bisher haben mehr als 21.000 Menschen unterschrieben. 

Was genau ist anstrengend?

Die Läden sind komplett voll, viele Kunden vertreiben sich momentan häufig einfach die Zeit bei uns. Oft achten Leute auch nicht auf die Abstände und müssen wiederholt ermahnt werden, dass sie die Maske über der Nase tragen. Wir als Beschäftigte können uns im Gegensatz zu ihnen nicht frei aussuchen, ob wir das Risiko einer Infizierung eingehen.

Behandeln die Kunden Sie mit Respekt?

Einerseits gibt es schon einige Kunden, die ein bisschen mehr Respekt und Verständnis zeigen als vorher. Da bekommt man auch mal Süßigkeiten oder so etwas geschenkt. Andererseits gibt es aber auch Leute, die wirklich richtig aggressiv zu uns sind. Vergangene Woche wurde ich wieder beleidigt.

Wie gehen Sie damit um?

Ich diskutiere nicht in solchen Situationen. Zum Glück haben wir einen Sicherheitsdienst, den rufe ich dann, wenn es ernst wird und wir bedroht werden. So etwas kann schon mehrmals die Woche vorkommen. Je länger die Pandemie andauert und je undurchsichtiger die Regierungsentscheidungen werden, desto aggressiver wird die Stimmung.

Wie verhalten sich die Arbeitgeber?

Ich arbeite bei »dm«, unser Arbeitgeber kümmert sich wirklich sehr gut um die ganzen Corona-Schutzmaßnahmen, da kann ich nicht meckern. Wir können uns jetzt zweimal die Woche testen lassen, alles ganz unbürokratisch. Wir bekommen aber nicht mehr Geld. Wertschätzung kann dabei nicht immer nur ein »Danke« sein, sondern muss auch mehr Lohn bedeuten.

Im ersten Lockdown war viel von systemrelevanten Berufen die Rede, für Pflegekräfte und Beschäftigte im Einzelhandel gab es symbolischen Applaus. Hat sich seitdem konkret etwas verbessert?

Nein, es gab leider gar keine Veränderungen. Ich befürchte auch, dass es in Zukunft für uns finanziell eher schlechter werden wird.

Warum?

Im Prinzip gibt es im Einzelhandel ja gerade zwei Sorten von Unternehmen: Die einen, die von der Krise enorm profitieren. Zum anderen aber auch die, die lange Zeit geschlossen waren. Einige Konzerne werden sicher die aktuelle Situation nutzen und einige Filialen dicht machen, um sich schlank zu sparen. Viele Leute werden dadurch ihre Jobs verlieren.

Gibt es dafür bereits erste Anzeichen?

Ich wohne in Essen, unsere Drogerie liegt in einem kleinen Einkaufscenter. Dort hat der Friseurfachbedarfsladen bereits dichtgemacht, die Parfümerie Douglas macht ebenfalls dicht. Auch der H&M soll schließen. Aber das sind alles Läden, die auch vorher schon in der Krise waren. Die Pandemie gibt für deren Aus lediglich den Anlass.

Rund 65 000 Teilzeitangestellte im Einzelhandel sind nach wie vor gezwungen, ihr Gehalt aufzustocken. Amazon hat derweil im vergangenen Jahr seine Gewinne enorm gesteigert, auch die Eigentümer einiger Discounter haben kräftig bei ihrem Vermögen dazugewonnen. Was macht das mit einem?

Es ist sehr unfair. Wir buckeln und setzen uns täglich der Infektionsgefahr aus. Die Unternehmensspitzen dagegen sitzen in irgendwelchen Büros, bekommen ständig mehr Geld und sind nicht bereit, auch mal ein bisschen was davon abzugeben. Ihr Geld kommt ja auch nicht von irgendwoher. Wir werden zum Teil echt mies bezahlt, die Tariflöhne sind nicht der Knaller.

Gibt es seit der Pandemie mehr Kampfbereitschaft im Einzelhandel?

Ich glaube eher, dass die meisten einfach erschöpft sind und Angst haben, dass ihr Unternehmen untergeht - und damit auch sie selbst. Diese Gefahr wird ja auch von den Unternehmensführungen aktiv vermittelt. Das schwächt den gemeinsamen Kampf. Und in den Corona-Zeiten kann man sich dazu auch fast gar nicht organisieren. Bei einigen wenigen, auch bei mir, ist trotzdem die Kampfeslust gestiegen.

Könnten denn Streiks eine Möglichkeit sein, um Druck für bessere Arbeitsbedingungen zu erzeugen?

Eigentlich wäre es total clever, jetzt im Einzelhandel zu streiken. Jeder weiß mittlerweile, dass wir systemrelevant sind. Gerade wären wir in einer guten Position, um so stärkeren Druck aufzubauen. Sicher würde es wehtun, aber das soll ein Streik ja auch. Die Gewerkschaft hat da aber eine andere Position. Sie glaubt, dass man solch einen Streik niemanden vermitteln kann und die Öffentlichkeit dann auf uns sauer wäre. Ohne Gewerkschaft geht es nicht.

Hätten Sie sich von Verdi einen anderen Kurs in der Pandemie gewünscht?

Ich würde mir von Verdi einen kämpferischen Kurs wünschen. Sie hätten im vergangenen Jahr richtig Gas geben können, hätten richtig in die Filialen gehen können, mit den Leuten reden, ihnen zeigen, dass man in der Pandemie an ihrer Seite steht. So ist es aber leider eine verpasste Chance. Es gibt aber auch verschiedene strukturelle Probleme.

Welche?

Der Einzelhandel ist fast gar nicht organisiert. Da, wo ich arbeite, ist die Gewerkschaft kaum sichtbar. Das habe ich auch aus vielen anderen Unternehmen in der Branche gehört. So gibt es auch nur wenige Mitglieder, die sich an einem Streik beteiligen würden. Die Basis, die wir eigentlich bräuchten, haben wir nicht.

Sie hatten vor knapp einem Jahr eine Online-Petition gestartet und dort einen Handelsaufstand gefordert. Wie kam es dazu und wie ist der Stand der Initiative?

Ich hatte damals die Petition vor allem gestartet, um unsere Arbeitssituation weiter in der öffentlichen Debatte zu halten und interessierte Leute zu sammeln. Das hat beides auch sehr gut geklappt. Ich moderiere derzeit auf Facebook eine Gruppe, in der fast schon 300 Leute drin sind, die wissen wollen, wie es weitergeht. In Essen baue ich dazu eine gewerkschaftliche Aktionsgruppe auf. Im kommenden Jahr will ich versuchen, in den Betriebsrat gewählt zu werden.

Ihre Petition hatte sich an Regierungsmitglieder gewandt. Dieses Jahr wird neu gewählt. Was bräuchte es aus Ihrer Sicht?

Die wichtigste Forderung der Petition war, dass die Tarifverträge wieder allgemeinverbindlich werden. Mehr als ein paar warme Worte gab es für uns zumindest von der aktuellen Bundesregierung aber nicht.

Wie bewerten Sie die Corona-Politik der Bundesregierung?

Ich bin von der kompletten Corona-Politik enttäuscht. Anstatt dass die Bundesregierung für drei Wochen wirklich mal alles runter fährt, eiert sie weiter so vor sich hin und die Länder erstellen absurde Regeln. Wir als Beschäftigte baden es dann aus, sind jeden Tag in der Filiale, haben Kontakt mit bis zu 1000 Leuten. Da fühlt man sich schon alleine gelassen. Abends will ich nur auf die Couch und nichts mehr machen, weil mein Rücken, mein Kopf und meine Füße schmerzen.

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