Klassenzimmer und Küche in einem

Die Nutzung digitaler Arbeits- und Vertriebsformen verändert die Städte. Der Bedarf an privatem Wohnraum steigt, vor allem die Zentren brauchen neue Konzepte

  • Thomas Gesterkamp
  • Lesedauer: 4 Min.

Hej, Homeoffice!« Unter diesem Motto bewirbt das Unternehmen Tchibo in einem Verkaufskatalog das »Pure Nordic Living«. Das Geschäftsprinzip des Kaffeerösters besteht darin, neben dem Kernprodukt im ständigen Wechsel viele andere, zum Zeitgeist passende Artikel anzubieten - und damit die Kunden in seine Filialen und auf das Onlineportal zu locken. Aktuell ist zum Beispiel ein »Esstisch mit integriertem Arbeitsplatz« zu haben. Der ist praktischerweise »auf- und zuklappbar« und enthält eine »Stauraum-Bodenplatte«. In dieser, so illustriert das Werbefoto, kann die Heimarbeiterin blitzschnell Tablet, Unterlagen oder Smartphone verschwinden lassen - um nach der Videokonferenz am selben Ort das Mittagessen zu servieren.

Die Bekämpfung des Coronavirus hat die Digitalisierung forciert und Teile der Arbeitswelt und des Bildungssystems in die privaten Wohnungen verlagert. Doch diese sind für ständiges Homeoffice und Homeschooling nur selten geeignet. Die vielfältiger und zeitlich umfangreicher gewordenen Aktivitäten zu Hause stoßen an räumliche Grenzen. Denn gerade in Großstädten mit hohen Mieten leben die Menschen in eher kleinen Wohnungen. Notgedrungen werden die vorhandenen Flächen dann multifunktional genutzt, sie dienen zugleich als Ess- und Arbeitsplatz, als Küche und Klassenraum in einem. Mit »Officeschränken« für das Wohnzimmer, rückenfreundlichen Stühlen oder »Vorhangschals« als Raumteiler bietet nicht nur Tchibo die passenden Accessoires. Die ganze Möbelbranche stellt sich um, entwickelt neue Produkte.

Entflechtung von Stadtlandschaften

In welchem Umfang sich das Homeoffice als Erwerbsform nach der Pandemie dauerhaft etabliert, lässt sich noch nicht seriös abschätzen. Spürbar sind die Folgen bereits jetzt auf dem Immobilienmarkt - in Form überdurchschnittlich steigender Preise für das private Wohnen. Die gewerbliche Vermietung von Ladenlokalen dagegen bereitet wegen des seit Monaten zugesperrten Einzelhandels Probleme; auch Büroflächen gibt es derzeit eher zu viele. Viele Unternehmen verkleinern sich räumlich, sie experimentieren schon länger mit Nutzungskonzepten, in denen es keine persönlichen Schreibtische mehr gibt. Heimarbeit erspart ihnen erhebliche Kosten, die sie auf ihre Angestellten abwälzen.

Denn Leistungen wie Diensthandys oder Firmenlaptops gleichen keineswegs aus, was eine optimierte und gesundheitsgerechte Einrichtung des Arbeitsplatzes zu Hause verschlingen würde. Die neu eingeführte »Homeoffice-Pauschale« in der Steuererklärung von maximal 600 Euro pro Jahr kompensiert die zusätzlichen Investitionen nur symbolisch. Damit lässt sich gerade mal eine ergonomische Sitzgelegenheit finanzieren.

Onlinevertrieb, Paketlieferung an die Haustür und Streaming-Angebote verändern die Stadtlandschaften. Es kommt zu einer Entflechtung urbaner Räume. Das Zentrum verliert dabei an Bedeutung, was nicht unbedingt Anlass zur Klage sein muss. Denn das Einerlei aus Billigketten in liebloser und fantasieloser Architektur ist kein städtebaulicher Magnet. Nach dem Ende des Dauer-Lockdowns werden gerade hier die Folgen der ruinösen staatlichen Corona-Politik in massiver Form sichtbar werden: insolvente Geschäfte, leerstehende Cafés und aufgegebene Kaufhäuser. Die Bau- und Wohnungspolitik muss darauf mit neuen Nutzungsideen reagieren, die sich von der einseitigen Fixierung auf das Einkaufen lösen - etwa durch mehr Kulturangebote und nichtkommerzielle Treffpunkte in den häufig öden und uniformen Fußgängerzonen.

Gemeinschaftliche Lösungen

Der erhöhte Platzbedarf im Privaten hat bisher keine Stadtflucht »aufs Land« ausgelöst. Dieser Trend wird zwar von einigen Feuilletons herbeigeschrieben, ist aber statistisch nicht belegbar. Vor allem junge und gut ausgebildete Menschen wollen noch immer in den Großstädten leben. Die Wohnungskrise könnte sich hier noch verschärfen, denn für das Homeoffice und wegen der stärkeren Präsenz zu Hause werden größere Objekte, gerne auch mit Balkon oder Terrasse, nachgefragt. Mieten, Bodenrichtwerte und Kaufpreise drohen deshalb weiter zu steigen. Das unterstreicht die Notwendigkeit staatlicher Interventionen mit dem Ziel einer sozial ausgewogenen Stadtentwicklung - trotz der Proteste und Klagen der Immobilienlobby, etwa gegen den Berliner Mietendeckel.

Im günstigsten Fall könnten die Erfahrungen aus der Pandemie als Korrektiv für eine lebenswertere Stadt wirken. Die Zukunft gehört dabei nachbarschaftlichen, multifunktionalen und nicht monothematischen Quartieren. Gefragt sind kreative Lösungen auch im kleinen Maßstab. Baugruppen oder Wohngenossenschaften haben längst Co-Housing-Konzepte vorgelegt, die durch gemeinschaftliche Nutzung von Gärten, Küchen, Gästezimmern, Werkstätten oder auch Büros den individuellen Wohnbedarf reduzieren. Zwar werden solche Initiativen bei manchen kommunalen Projekten in begrenztem Rahmen gefördert und deren Ziele als Vergabekriterien in Bauwettbewerben mitberücksichtigt. Meist jedoch übersteigt die Nachfrage nach neuen Wohnformen das Angebot um ein Vielfaches. Bestimmt allein der Markt, wem die immer teureren städtischen Grundstücke verkauft werden, haben innovative und sozial orientierte Bewerbungen kaum eine Chance.

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