Die Müllkippe auf dem Meeresboden

Wissenschaftler wollen die Menschen für die Gefahren sensibilisieren, die von Plastikpartikeln ausgehen

  • Mareike Treblin, El Hierro
  • Lesedauer: 8 Min.

Barfuß läuft Cintia Hernández Sánchez mit geschultem Blick über den Strand. Mit einer Pinzette sammelt die Wissenschaftlerin kleine Plastikteilchen, die sie in Gefäße aus dunklem Glas gibt. Es sind Proben, die nicht durch Anfassen verändert werden sollen, bevor sie im Labor untersucht werden. Wenn sich das Meer nach dem Hochwasser zurückzieht, ist der bunte Spülsaum gut erkennbar auf dem hellen Strand von Arenas Blancas auf der kanarischen Insel El Hierro.

Die dicke Schicht des »Plasticrust« bemerkt selbst Hernández Sánchez nicht auf den ersten Blick. Sie überziehen weite Teile des Strandes. Es handelt sich um eine Schweröl-Plastikmüllmischung, die in der schwarzen Vulkanlandschaft kaum auffällt. Durch wiederkehrende Entleerungen von Schiffstanks ins Meer wächst die Schicht Jahr für Jahr über die Basaltformationen.

Kleine Partikel, großer Schaden

150 Millionen Tonnen Plastikmüll befinden sich Schätzungen des Europäischen Parlaments zufolge weltweit in den Ozeanen. Laut der Umweltschutzorganisation WWF kippen wir minütlich eine Lastwagenladung Plastikmüll in die Meere. Neben Materialien der Fischereiindustrie wie Netze und Leinen gehören zu den in der Meeresumwelt am häufigsten anzutreffenden Plastikmüllfunden Lebensmittelverpackungen, Plastikflaschen und Wattestäbchen.

UV-Strahlung, Abrieb und mechanische Kräfte zerlegen den Kunststoffmüll in kleinere Fragmente. Eine weitere Quelle des Mikroplastikeintrages ist die direkte Freisetzung dieser kleinen Teile durch beispielsweise kosmetische Produkte. Durch ihre hohe Haltbarkeit werden Kunststoffe nur von wenigen Organismen und so langsam abgebaut, dass mehr Plastik akkumuliert als zersetzt wird.

Plastikpartikel sind in der Meeresumwelt allgegenwärtig und werden in Meeresschildkröten und -vögeln, in Meeressäugern, Fischen und Wirbellosen bis hin zu Plankton nachgewiesen, an der Meeresoberfläche, an Küsten, auf dem Meeresboden und in Tiefseespalten - weltweit.

Für das Ökosystem im Meer ist das hochproblematisch. Tiere, die sich in verloren gegangenen Leinen und Netzen verfangen, werden in ihren Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt, erleiden Verletzungen, ersticken oder verhungern. Plastikpartikel, die per Nahrungsaufnahme in den Körper gelangen, können den Verdauungstrakt verletzen oder blockieren. Die Tiere verhungern mit vollem Magen. Dies betrifft auch kommerziell wichtige Fische und Schalentiere, die Fischereiwirtschaft beklagt Ausfälle.

Mit Plastikmüll bedeckte Pflanzen leiden unter dem Lichtmangel; die für ihr Wachstum notwendige Photosynthese wird beeinträchtigt. Am Meeresboden lebende Organismen werden durch Müll überlagert oder beschädigt, es kommt zu Erstickungen und Verletzungen.

Kunststoffe können Schadstoffe adsorbieren. Wenn Meereslebewesen diese Gifte mit der Nahrung aufnehmen, belastet dies ihre Gesundheit mitunter schwerwiegend. Organismen besiedeln die Plastikpartikel und werden durch Meeresströmungen in neue Gebiete transportiert, wo sie sich ausbreiten können.

Wie konkret wirken die an Plastik angelagerten Stoffe? Welche Prozesse unterstützen den Abbau der Plastikpartikel? Diese und weitere Fragen werden zunehmend erforscht, wie zum Beispiel mittels der Citizen Science Studie IMPLAMAC. Mareike Treblin

Hernández Sánchez und die Freiwilligen der als bürger*innenwissenschaftlich angelegten IMPLAMAC-Studie (Das Akronym steht, übersetzt aus dem Spanischen, für »Bewertung der Auswirkungen von Mikroplastik und neuen Schadstoffen an den Küsten Makaronesiens«.) finden zwischen Plastikteilchen auch Reste von Schalentieren, kleine Steine und Holzstückchen. Das Meer spült mit jeder Welle, die an den Strand schlägt, eine Sand-Stein-Partikel-Mischung ans Ufer - der sogenannte Spülsaum lagert sich ab. Von diesem nehmen die Freiwilligen am Strand von Arenas Blancas mit einer kleinen flachen Schaufel die oberste Schicht ab und geben sie in ein Doppelsieb. Alles Natürliche kommt zurück an den Strand - es soll nicht ins Labor. Im oberen Sieb bleiben die Mesoteile hängen, Partikel, die größer als fünf Millimeter sind, wie Reste von Ohrstäbchen, abgeschliffene Wäscheklammern und Deckel von Plastikflaschen. Die kleine graue Spielzeug-Kuh, die heute im Mesosieb landet, gehört zu den Kuriositäten unter den Fundstücken.

Kaum sichtbare, farblose, runde und kleine Plastikpellets, die das Ausgangsmaterial für die Herstellung von Plastikprodukten sind, rutschen durch die Maschen hindurch in das Sieb für Mikroteile. Cintia Hernández Sánchez erklärt, dass die Kunststoffpellets aus Containern stammen, die bei Unwetter auf den Weltmeeren von Frachtschiffen fallen. Wertvolles findet sich selten an den Stränden. Auf den Frachtern wird es sicher in den unteren Containern transportiert.

Das Rote Kreuz als Anlaufpunkt

Einmal im Monat nehmen die Laienwissenschaftler*innen an den am stärksten betroffenen Stränden, den sogenannten »Puntos Negros« Makaronesiens, Proben. Die Inselgruppen des östlichen Zentralatlantik sind alle vulkanischen Ursprungs und weisen Gemeinsamkeiten in der Pflanzen- und Tierwelt auf. Daher werden die Azoren, die Kanarischen Inseln, die Kapverden sowie Madeira zu einer biogeografischen Region zusammengefasst. Auf einem Formular dokumentieren die Forscher*innen weitere Daten wie Windrichtung und -stärke sowie Wellenperiode, -höhe und -richtung und besondere Funde wie Kadaver und Schiffsölanspülungen.

Ein Strand wird als Punto Negro geführt, wenn mehr als 1000 Plastikteile pro Quadratmeter gefunden werden. Dies kommt an Stränden vor, die gen offenes Meer in Richtung des Kanarenstroms ausgerichtet sind. Er transportiert Strandgut und Müll und ist als Seitenarm des Golfstroms für die gemäßigten Temperaturen auf den Inseln verantwortlich. Auf den Kanarischen Inseln sind es die nach Nordosten ausgerichteten Strände. Auf El Hierro ist es der Strand Arenas Blancas. Er ist seit jeher Ablagerungspunkt für zerriebene Sedimente gestorbener Meerestiere. Hier finden die Forscher*innen heute Plastiglomerate, Reste verbrannten Plastiks, verklebt mit Sand und organischem Material. Die genaue Herkunft kann nur im Labor festgestellt werden.

Nur selten ist Cintia Hernández Sánchez bei den Probennahmen auf El Hierro selbst dabei. An diesem Sonntag im März hält sie hier für das Rote Kreuz einen Vortrag und arbeitet neue ehrenamtliche Forscher*innen ein. Ihre enthusiastische Art steckt an und motiviert. Es stellt sich heraus, dass das Rote Kreuz ein guter Anlaufpunkt ist. Der Verein stellt seine Infrastruktur zur Verfügung, und aus dem großen Ehrenamtsnetzwerk der Hilfsorganisation haben sich einige Interessierte zur Unterstützung des Citizen-Science-Projekts angemeldet. Weil am frühen Morgen der Einführungsveranstaltung für neue Mitstreiter*innen wieder ein Boot mit Geflüchteten auf der Insel angekommen ist, sind viele Rote-Kreuz-Freiwillige zum Hafen gefahren, um die Angekommenen zu versorgen. Um dennoch zu gewährleisten, dass die Methode verstanden und korrekt ausgeführt wird, damit das Material qualitativ den Anforderungen des Laborteams entspricht, werden die Neuen in den nächsten Monaten von erfahrenen IMPLAMAC-Unterstützer*innen bei den Probennahmen unterstützt.

Gifte aus Industrie und Landwirtschaft

Sind die Freiwilligen alleine unterwegs, verstauen sie die Proben in kleinen etikettierten Dosen und verschicken sie an die Universität La Laguna auf Teneriffa. Dort analysieren Cintia Hernández Sánchez und ihre Kolleg*innen mit Studierenden des Abschlusssemesters seit 2019 die Proben auf Quantität, Qualität und Herkunft der einzelnen Plastikteile. Auch die Stoffe, die sich am Mikroplastik abgelagert haben und mit den Meeresströmungen um die ganze Erde transportiert wurden, werden untersucht. Ziel ist es, Maßnahmen zu entwickeln, mittels derer die Plastikflut verringert werden kann. Die Expertise des IMPLAMAC-Teams findet mit Hernández Sánchez‘ Kollegen Javier Hernández-Borges, der als Berater sowohl für die Einführung des Kreislaufwirtschaftsgesetzes auf den Kanarischen Inseln als auch für die Blue-Economy-Strategie der Autonomen Gemeinschaft der Kanaren wirkt, direkt Eingang in die Politik.

Auch auf La Gomera nehmen Freiwillige Proben. Einer von ihnen ist Volker Böhlke. Der Meeresbiologe lebt seit neun Jahren auf der Kanarischen Insel. Immer wieder waren ihm die Plastikansammlungen an den sonst so sauberen Stränden aufgefallen und er fragte sich, was es damit auf sich hat. Als er von dem Citizen-Science-Projekt hörte, meldete Volker Böhlke sich sofort, um Teil des Teams zu werden. Seit Oktober 2020 nimmt er nun alle drei Monate die notwendigen Proben. Ihn beunruhigen besonders die assoziierten Gifte, sagte er dem »nd«. Das sind »langlebige Gifte aus Industrie und Landwirtschaft, Erdöl und seine Abbauprodukte und Quecksilber«, die an den Plastikpartikeln haften und sich in »hohen Konzentrationen in Meeresbewohnern wie großen Fischen, Vögeln, Schildkröten und Meeressäugern anreichern«.

Über kurz oder lang landen die Plastikkleinteile auf dem Meeresboden, erklärt Böhlke und wünscht sich die Verwendung von Plastiksorten, die kompostierbar wären: »Am besten eine Plastikform, die auch von Bakterien auf dem Meeresboden zersetzt werden kann.« Aber die müsste erst einmal entwickelt werden. Bis dahin wächst auf dem Meeresboden eine Müllkippe.

In ihrem Vortrag erklärt Cintia Hernández Sánchez, dass IMPLAMAC als Citizen Science angelegt ist, damit das Thema in die Bevölkerung getragen wird. Noch fehle es an entsprechender Bildung und einem Bewusstsein für diese Problematik. Sie möchte mit ihrer Forschung warnen und darüber aufklären, dass verantwortungsvoller Konsum durch Plastik verursachte Probleme reduzieren kann. Unterstützung erhalten die Forscher*innen von den lokalen Verwaltungen, die die Informations- und Mitmachveranstaltungen öffentlich über soziale Medien bewerben.

Mit dem White Paper zu Citizen Science hat die Europäische Kommission im Jahr 2014 die Charakteristika, Vorteile und Herausforderungen von Bürger*innenwissenschaft genannt und beschlossen, Bürger*innenwissenschaft zu fördern. Während die Beteiligten die Forschungen unterstützen und um weitere Fragen ergänzen, entstünde so eine neue Wissenschaftskultur. Freiwillige tragen zur Wertsteigerung der Forschung bei, häufig lernen sie neue Themen und Fertigkeiten kennen. Diese neue Wissenschaftskultur führe zu demokratischer Forschung und Entscheidungsfindung. Daher wird die IMPLAMAC-Studie im Rahmen der Gemeinschaftsinitiative INTERREG gefördert.

Hernández Sánchez konstatiert, dass ungefähr 20 Prozent des an die Strände gespülten Plastikmülls auf dem Meer entstehen; auf Schiffen anfallender Müll ebenso wie verloren gegangene Materialien der Fischindustrie. Der wesentlich größere Anteil, nämlich 80 Prozent, gelangt vom Land in die Meere - durch Wind, über Flüsse, Abwässer und Kläranlagen.

Müllvermeidung als Strategie

Zum Vortrag auf El Hierro hat Cintia Hernández Sánchez ihre Familie mitgebracht. In den Pausen stillt sie ihr Baby und stärkt sich mit Keksen, die ihr Cousin gebacken hat. Zu den Probennahmen am Strand bringt sie ihren siebenjähriger Sohn mit. Die Forscherin benennt die wissenschaftlichen Namen der Muschel- und Schwamm-Schätze, die er sammelt. Viele kennt er bereits und ist stolz darauf. Heute findet er auch eine Fischerboje. Er stellt sie an den Weg zu anderen größeren Müllfunden des Tages, die Hernández Sánchez und ihr Team auf El Hierro später vom lokalen Entsorgungsbetrieb abholen lassen.

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Eine Reduktion der Müllfunde ist nur zu erwarten, wenn die Menge des produzierten Plastikmülls drastisch zurückgeht. Und das mit etlichen Jahren Verzögerung. Solange will Cintia Hernández Sánchez‘ Team nicht warten. Sie haben ein neues Projekt ins Leben gerufen: Valoromac. Der Plastikmüll soll zur Energieerzeugung eingesetzt werden.

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