Schirdewan: »Die EU-Kommission agiert kopflos«

Linke-Fraktionschef Martin Schirdewan über die europäische Reaktion auf Trumps Strafzölle und die Frage eines fairen Handels

  • Interview: Felix Sassmannshausen
  • Lesedauer: 5 Min.
Dier EU-Kommissionschefin bemüht sich wie hier beim Davoser Weltwirtschaftsforum um ein gutes Verhältnis zum US-Präsidenten.
Dier EU-Kommissionschefin bemüht sich wie hier beim Davoser Weltwirtschaftsforum um ein gutes Verhältnis zum US-Präsidenten.

US-Präsident Trump hat die Frist für Zusatzzölle auf Importe aus der Europäischen Union vom 9. Juli auf den 1. August verschoben. Wie bewerten Sie die Rolle der EU-Kommission, die für die Union verhandelt?

Die Kommission agiert in dem von Trump initiierten Handelskrieg bislang kopflos und reagiert, wenn überhaupt, mit Wochen oder Monaten Verzögerung. Statt einer Politik der strategischen Geduld muss man zu einer der Aktion finden, denn die EU darf sich von Washington nicht erpressen lassen. Bei China, aber auch bei Kanada hat das dazu geführt, dass Trump bereit war einzulenken. Die EU muss klarmachen, dass sie Instrumente in der Hand hält, die auch den Vereinigten Staaten wehtun. Das bleibt bislang aus.

Woran denken Sie?

Man muss schauen, was Trump und seinen Oligarchen-Freunden wirklich wehtut. Der Handelskrieg zielt darauf ab, drei Kapitalfraktionen ruhigzustellen: Er möchte seine Big Tech-Kumpels befrieden, indem die Umsetzung entsprechender EU-Regulierungen verhindert wird. Er möchte, dass die EU viel mehr in Rüstung investiert, also, dass die US-amerikanische Rüstungsindustrie profitiert. Und gleichzeitig will er, dass die EU mehr Flüssiggas aus den USA kauft. Bei den Interessen dieser Kapitalfraktionen muss man ansetzen und so Trumps Machtbasis angreifen. Instrumente wären eine europäische Digitalsteuer, Energieunabhängigkeit und die Ablehnung des Aufrüstungskurses und der Militarisierung.

Wie bewerten Sie Trumps Zollpolitik grundsätzlich?

Trump betreibt im Grunde eine imperialistische Handelspolitik. Er verfolgt das Ziel, die US-amerikanische Industrie wieder in eine stärkere Position zu bringen. Dafür nutzt er Mittel der Handelspolitik als Werkzeug der Dominanz und schreckt auch vor Zwang nicht zurück. Das Handelsdefizit zwischen den Vereinigten Staaten und der EU, das Trump als Grund für seine Politik heranzieht, ist in Wirklichkeit viel kleiner, als er behauptet. Bei einem Handelsvolumen von 1,3 Billionen Euro jährlich beläuft sich das Defizit auf läppische 50 Milliarden Euro. Darüber kann man reden, aber das will er nicht.

Sie kritisieren, dass Arbeiter*innen in den USA und Europa am Ende die Zeche zahlen müssen. Aber US-Gewerkschaften haben teilweise Unterstützung für die Zölle signalisiert. Wie passt das zusammen?

Interview


Martin Schirdewan ist Fraktionsvorsitzender der Linken im Europäischen Parlament und Mitglied im Wirtschafts- und Währungsausschuss des EU-Parlaments.

Es gibt einen Interessenkonflikt zwischen der Industrie in den Vereinigten Staaten und den Arbeitnehmenden dort. Die fürchten ja, genauso wie die Leute hier, um ihre Arbeitsplätze, wenn ein Handelskrieg ausbricht oder Handelsbeziehungen in ein Ungleichgewicht geraten. Da hilft es wenig, sich gegenseitig mit Zöllen zu überziehen. Man muss über eine andere Industriepolitik nachdenken. Da gab es in den USA mit dem Inflation Reduction Act (unter der Biden-Regierung, d. Red.) sinnvolle Initiativen mit enormen Investitionen. Auch in Europa brauchen wir eine Industriepolitik, die zu einer zukunftsfähigen Industrie, zu sicheren Jobs und besseren Löhnen führt. Damit könnte nebenbei das Problem behoben werden, dass die USA bei Warenimporten ein Handelsdefizit haben, weil europäische Güter nicht mehr so billig sind, wenn hier anständige Löhne gezahlt werden. Aber wichtig ist, dass man die Arbeitnehmenden diesseits und jenseits des Atlantiks nicht gegeneinander ausspielt. Man muss auf gewerkschaftlicher Ebene zu einem gemeinsamen Verständnis kommen: Es darf keinen zerstörerischen Freihandel geben, sondern einen fairen Handel, der eine gute industrielle Entwicklung auf beiden Seiten zulässt.

Stichwort Freihandel: Trump ist dabei, die neoliberale Ordnung der letzten Jahrzehnte mit dem Vorschlaghammer zu zerstören. Ist das nicht eine gute Nachricht für die Linke, die den Neoliberalismus immer abgelehnt hat?

Meine Kritik am Neoliberalismus bezieht sich nicht nur auf die Handelspolitik. Und nein, für die Europäerinnen und Europäer ist Trumps Handelskrieg und Protektionismus im Moment gar keine gute Nachricht, weil es dazu führt, dass die EU-Kommission wie wild anfängt, ein Freihandelsabkommen nach dem anderen abzuschließen, und das auch am Parlament vorbei macht. Das EU-Mercosur-Abkommen (mit lateinamerikanischen Ländern, d. Red.) ist nur die Spitze des Eisberges. Es gibt auch digitale Assoziierungsabkommen unter anderem mit Singapur, die den Datenschutz und die EU-Transparenzregeln unterlaufen. Hinzu kommen Rohstoffabkommen, die teilweise absurd sind. So hat sich etwa Ruanda verpflichtet, Rohstoffe an die EU zu liefern, die dort gar nicht vorkommen – auch ein Grund, warum das Land im kongolesischen Bürgerkrieg interveniert hat. Das ist eine unglaublich zerstörerische Handelspolitik, in die die EU sich drängen lässt.

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Ist der Vorstoß der EU-Kommission, eine Art WTO 2.0 zu gründen, eine gute Idee?

Es braucht eine regelbasierte internationale Handelsordnung, sonst enden wir beim Faustrecht. Deswegen fordern wir statt Freihandel einen Fairhandel, der regelbasiert ist. Die WTO hat durchaus versucht, Ansätze weiterzuentwickeln, um dahin zu kommen, erwies sich aber in zurückliegenden Handelskonflikten als politisch wenig durchsetzungsfähig.

Unter eine aktive Industriepolitik, die die Märkte schützt, fallen auch Strategien zum Schutz lokaler Wertschöpfung, die teils gegen WTO-Regeln verstoßen würden. Ist das kein Widerspruch?

Es ist klar, dass wir eine aktive Industriepolitik brauchen. Der erste Schritt sind massive Investitionen. Aber ich halte es auch für richtig, dass es einen Anteil an vor Ort produzierten Gütern, Dienstleistungen oder Technologien gibt, die die Produktketten mitbestimmen. Auch um damit strategischen Abhängigkeiten etwa von China oder den USA zu entkommen.

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