Myanmars Wirtschaft auf Talfahrt

Die Zerstörung demokratischer Strukturen könnte Erfolge bei der Armutsbekämpfung zunichte machen

  • Michael Lenz
  • Lesedauer: 4 Min.

Schlangen vor Geldautomaten gehören 100 Tage nach dem Putsch vom 1. Februar 2021 in Yangon ebenso zum Alltag wie streikende Arbeiter, Demonstrationen gegen die Junta, Razzien der Sicherheitskräfte und steigende Preise für Reis, Kochöl und Gemüse.

Nur noch 200.000 bis 300.000 Kyat - umgerechnet 106 bis 156 Euro - dürfen die Myanmaresen pro Tag aus Geldautomaten ziehen. Jeder Automat spuckt zudem nur noch für 30 bis 40 Leute pro Tag Geld aus - wenn es denn hier überhaupt noch Geld gibt. Tausende Angestellte können ihre Aprilgehälter nicht mehr vom Konto abheben, weil den Banken das Geld ausgeht. Wenn der Run auf die Banken anhält, warnen Finanzexperten, werde die Zentralbank bald nicht mehr in der Lage sein, die Liquidität der Banken zu sichern, und das Banksystem werde in naher Zukunft kollabieren.

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Viele Bankfilialen haben seit drei Monaten geschlossen. Bankangestellte waren eine der ersten Berufsgruppen, die sich dem Generalstreik der Bewegung für zivilen Ungehorsam (CDM) gegen das Militärregime angeschlossen hatten. Die Junta hat es trotz Drohungen und Einschüchterungen bisher ebenso wenig geschafft, die Finanzwirtschaft in den Griff zu bekommen, wie sie trotz exzessiver Gewalt in den drei Monaten ihrer Herrschaft nicht die Kontrolle über das Land erlangt hat.

Die Bankenkrise ist nur ein Zeichen des wirtschaftlichen Absturzes von Myanmar, ausgelöst durch die Doppelkatastrophe Covid-19 und Putsch. Davor war das Land noch eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften Südostasiens. Eine Umfrage von zehn ausländischen Handelskammern in Myanmar unter 372 Unternehmen wirft ein Schlaglicht auf die Krise: 13 Prozent der Unternehmen hatten seit dem Putsch alle Aktivitäten eingestellt. Rund ein Drittel gab an, ihre Aktivitäten in Myanmar seien um mehr als 75 Prozent zurückgegangen, während 21 Prozent ihre Aktivitäten um 50 bis 75 Prozent reduziert hatten. Nur 5 Prozent gaben an, weder Putsch noch Corona hätten einen Einfluss auf ihre Geschäftstätigkeit.

182 der befragten Unternehmen stammten aus Japan, 115 aus westlichen Ländern, 17 aus Myanmars südostasiatischen Nachbarländern und 54 aus Myanmar. Laut dem unabhängigen myanmarischen Nachrichtenportal Irrawaddy haben ausländische Investoren Projekte im Gesamtwert von sechs Milliarden US-Dollar auf Eis gelegt.

Die Widerstandsbewegung übt zudem Druck auf ausländische Investoren aus, ihre Geschäftsverbindungen mit den Unternehmenskonglomeraten MEHL und MEC der Armee einzustellen. »Investoren haben die Verantwortung, Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass sie nicht zum Blutvergießen beitragen und davon profitieren«, forderte die Organisation Justice For Myanmar Anfang Mai bei der Veröffentlichung einer Liste ausländischer Unternehmen, darunter der indische Adani-Konzern oder die französische Erdgas- und Ölfirma Total.

Der Junta geht möglicherweise das Geld aus. »Das ist die Hoffnung der CDM«, sagt ein westlicher Diplomat aus Yangon gegenüber dem »nd«. Die Junta habe keinen Plan, wie sie die Wirtschaft in den Griff bekommen könnte. Gleichzeitig aber führt der Absturz der Wirtschaft geradewegs in eine humanitäre Katastrophe.

Gewerkschaften in Myanmar schätzen die Zahl der seit dem Putsch arbeitslos gewordenen Menschen auf 600 000. Etwa die Hälfte seien Arbeiter*innen aus in der Textilindustrie, die andere Hälfte Bauarbeiter, die durch die Aufgabe großer Infrastrukturprojekte ihre Jobs verloren haben.

Das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) befürchtet, bis Anfang 2022 könnte knapp die Hälfte der 55 Millionen Myanmaresen in Armut leben. UNDP-Chef Achim Steiner betont in einem Ende April veröffentlichten Report: »Ohne funktionierende demokratische Institutionen droht Myanmar ein tragischer und vermeidbarer Rückfall auf ein Armutsniveau, das man seit einer Generation nicht mehr gekannt hat.« Verschärft wird die Lage durch Zehntausende Menschen, die in den Siedlungsgebieten der ethnischen Minderheiten vor dem Krieg der Armee gegen bewaffnete Organisationen geflohen sind. Das Welternährungsprogramm befürchtet, dass bis Ende 2021 zusätzliche 3,4 Millionen Menschen in Myanmar Hunger leiden werden.

Schneidet sich die Widerstandsbewegung mit Streiks und Protesten ins eigene Fleisch? »Ja«, sagt der westliche Diplomat. »Und das ist ihr bewusst. International ist es noch nicht klar geworden, dass es längst nicht mehr um einen Widerstand geht. Sondern es geht um eine Revolution, um ein für allemal die Herrschaft des Militärs zu beenden.«

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