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Herrscher ohne Konkurrenz
Einen Gazastreifen ohne die Hamas - das wünschen sich viele Menschen in aller Welt, in Israel und auch in Gaza selbst. Nur sind derzeit keine realistischen Alternativen in Sicht
Nur wenige Kilometer trennen die beiden Familien, und trotzdem sind sie eine ganze Welt voneinander entfernt: Im israelischen Sderot leben die Ma’or, Vater Juwal, Mutter Avivit, drei Kinder, in einer großzügigen Neubauwohnung, Einbauküche und Balkon inklusive. Es sind die günstigen Mieten und recht kurzen Wege in die Großstadt Aschkelon, die sie hierher gezogen haben. Im palästinensischen Beit Hanun geht indes Mohamad Mussa durch die Wohnung, in der er mit seiner Frau und vier Kindern lebt: Zu sehen sind notdürftig mit Plastikplanen abgedeckte Fenster; der Putz blättert von den Wänden. Im Kühlschrank ist es dunkel. Und leer. Es gibt keinen Strom, um irgendetwas dauerhaft kühl zu halten. Während der Gespräche sind Sirenen und Donner zu hören, auf beiden Seiten.
Es herrscht Krieg, seit mittlerweile zehn Tagen. Ob er den Krieg unterstützt? Nein, sagt Mussa, »es war doch vorhersehbar, was passiert. Dass alles nur noch schlimmer wird.« Ja, sagt Juwal, und Avivit unterbricht ihn: »Wir lesen die Nachrichten; wir wissen, wie es den Leuten da drüben geht. Das geht uns nahe. Die Hamas muss weg, nicht nur damit wir endlich ruhig schlafen können. Die Menschen im Gazastreifen brauchen eine Perspektive.« Muss die Hamas weg? Mussa sagt nur: »Sie wissen, wie’s ist.« Und es ist so: Man kann im Gazastreifen nicht frei seine Meinung sagen.
Wer es dennoch tut, muss damit rechnen, dass die Polizei der Hamas-Regierung vor der Tür steht, oder Kämpfer der Essedin-al-Kassam-Brigaden. Das ist der militärische Flügel der Hamas, dessen Angehörige zwar in keine staatlichen oder de facto staatlichen Strukturen eingebettet sind, aber dennoch für sich beanspruchen, Ordnungsmacht und dominierende militärische Kraft im Gazastreifen zu sein. Hinter vorgehaltener Hand erzählen die Menschen davon, wie die meist sehr jungen Brigadisten jene einschüchtern und bedrohen, die offen ihre Meinung sagen. Ihren Ursprung hat die Angst während des Gazakrieges 2014 genommen, als Brigadisten 24 Palästinenser erschossen, die der Kollaboration mit Israel beschuldigt wurden. Selbst die Gerichtsbarkeit der Hamas wurde umgangen; angeblich hatten alle 24 Geständnisse abgelehnt.
Geführt wird die Hamas von einem Politbüro, an dessen Spitze der frühere Gazachef Ismail Hanijeh steht. An der Spitze der Gaza-Führung, die dort gleichzeitig die Rolle einer Regierung ausübt, steht seit 2017 Jahya Sinwar. Die Essedin-al-Kassam-Brigaden werden von Mohammad Deif geleitet. Ob die Kassam-Brigaden allerdings tatsächlich Weisungen aus dem Politbüro oder der Gazaführung entgegennehmen, wie die Entscheidungsprozesse verlaufen, ist unklar.
Offiziell gehört der Gazastreifen zu den Palästinensischen Autonomiegebieten und damit zum Machtbereich von Präsident Mahmud Abbas und seiner Regierung. Doch im Sommer 2007 übernahm die Hamas eineinhalb Jahre, nachdem sie die palästinensischen Parlamentswahlen gewonnen hatte, nach Kämpfen mit der palästinensischen Polizei die Macht in Gaza. Und hat sie bis heute behalten.
In dieser Zeit wurde Dutzende Mal zwischen beiden Fraktionen verhandelt, die Bildung einer Einheitsregierung beschlossen. Letzten Endes scheiterten alle Versuche daran, dass die Hamas keine Macht abgeben wollte. Dabei baute man jeweils auf die militärische und finanzielle Unterstützung aus dem Iran. Auf internationalen Rückhalt von dort und aus der arabischen Welt hoffte man wohl auch dieses Mal. Kurz nachdem die Hamas mit dem Raketenbeschuss begonnen hatte, verbreiteten die Hamas-nahen Medien ununterbrochen die Nachricht, man werde die Al-Aksa-Moschee gegen »die israelischen Besatzer« verteidigen; die Palästinenser*innen wurden dazu aufgerufen, sich zu beteiligen. In Ramallah, wo die Abbas-Regierung sitzt, und in Israel wurde das als klarer Angriff auf Abbas verstanden, dem in der palästinensischen Öffentlichkeit vorgeworfen wird, eine »Marionette« Israels zu sein. Eigentlich hatten Ende Mai Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattfinden sollen; die Wahlliste der Hamas hätte wohl im Westjordanland gewonnen, weil es schlicht keine anderen politischen Alternativen zu Abbas’ ausgesprochen unbeliebter Fatah-Fraktion gibt.
Wenige Tage nach Kriegsbeginn wurden Hamas-Vertreter in Beirut bei der ebenfalls vom Iran unterstützten Hisbollah und in Teheran bei den Revolutionsgarden vorstellig. Iranische Medien und Plattformen der Hisbollah verbreiteten daraufhin ein paar martialische Worte gegen Israel, aber ansonsten geschah: fast nichts. Statt Kämpfer an der Grenze zu Israel aufziehen zu lassen, sind dort nach Angaben des israelischen Militärs Suchtrupps der Hisbollah unterwegs, die Raketenabschussrampen anderer Gruppen aufspüren sollen, nachdem vom Libanon aus einige Raketen abgefeuert wurden. Mitten in einer schweren Wirtschafts- und Gesundheitskrise scheint man sich nicht in einen Krieg hineinziehen lassen zu wollen. Sprecher*innen der iranischen Regierung und der Hisbollah wollen sich auch nicht zu den Entwicklungen in Gaza äußern.
Überwiegend stumm bleiben aber auch jene arabischen Staaten, die vor Kurzem diplomatische Beziehungen zu Israel aufgenommen haben. Sowohl die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) als auch Bahrain sehen die aus der ägyptischen Muslimbruderschaft hervorgegangene Hamas kritisch. Ein in Kairo ansässiger Diplomat der VAE sagte im vergangenen Jahr, seine Regierung werde wohl »keine Trauer« verspüren, wenn es die Hamas nicht mehr geben würde - und das nicht nur, weil die Ideologie der Muslimbruderschaft, auf der auch die Hamas basiert, als Bedrohung für das eigene Machtsystem gesehen wird, sondern auch, weil man sich von den diplomatischen Beziehungen zu Israel wirtschaftlich und politisch viel verspricht. Man hatte ja nie Krieg gegeneinander geführt.
Über eine dauerhafte Lösung für den Gazastreifen will bei den Regierungen der arabischen Welt aber niemand sprechen. Jahrelang stand das Thema Palästina auf der Tagesordnung der Arabischen Liga ganz unten. Und jetzt, wo zum vierten Mal seit 2009 Krieg herrscht, hat niemand eine Idee, wie man da dauerhaft rauskommen könnte. Viele machen die israelische Besatzung dafür verantwortlich, die sich nach dem Abzug Israels aus Gaza 2005 vor allem in einer Blockade der offiziellen Wege in den dicht bevölkerten Landstrich äußerte. Israels Regierung begründet dies damit, dass die Einfuhr von Gütern verhindern müsse, die zum Waffenbau verwendet werden.
»Wenn wir die Blockade heute beenden würden, dann würde das definitiv nicht automatisch Frieden oder ein Ende des Raketenbeschusses bedeuten«, sagt der ehemalige israelische sozialdemokratische Regierungschef Ehud Barak, der einst Generalstabschef war: »Wahrscheinlicher ist, dass die Hamas ihre militärische Macht ausbauen und damit auch zur dominierenden Kraft im Westjordanland werden würde. Wer für Demokratie eintritt, kann das nicht wollen.«
Zeitweise hatte es in den vergangenen Jahren so ausgesehen, als sei die politische Führung in Gaza bereit zur Annäherung: Im Wochentakt pendelten ägyptische Unterhändler*innen zwischen Gaza und West-Jerusalem. Sehr zum Verdruss der offiziellen Führung in Ramallah wurden auch Deals über Finanzhilfen aus Katar, Strom- und Benzinlieferungen geschlossen. Doch die Annäherung hatte für die Hamas ihren Preis: Ein Teil der Jugend ist stark radikalisiert und wandte sich dem Islamischen Dschihad oder örtlichen Ablegern des »Islamischen Staates« zu.
Damit stellte sich die Frage, die auch heute, auf beiden Seiten, weitgehend ergebnislos erörtert wird: Gibt es eine Alternative zur Hamas-Herrschaft? Die offizielle Regierung in Ramallah hat in Gaza, soviel ist sicher, keinerlei Rückhalt. Abbas ist zu alt und zu unbeliebt; hinzu kommt, dass sich im Laufe der Jahre völlig andere rechtliche und gesellschaftliche Strukturen herausgebildet haben. Die Ramallah-Regierung müsste zwangsläufig mehrere Jahre lang mit dem Verwaltungspersonal der Hamas weiterarbeiten und gleichzeitig mit einem enormen militärischen Aufwand die radikalen Elemente in der Bevölkerung in Schach halten.
Und so wissen die Menschen auf beiden Seiten, dass auch die aktuelle Waffenruhe nur vorübergehend sein wird.
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