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Fortgesetzte Realitätsverweigerung

Trotz der fragilen Sicherheitslage will das Bundesinnenministerium weiter nach Afghanistan abschieben

Bei einem Anschlag auf einen Bus sterben Frauen und Kinder. Sogenanntes »Friendly Fire«, also der irrtümliche Beschuss eigener Truppen tötet afghanische Sicherheitskräfte. Mindestens drei Bezirke fallen binnen zwei Tagen unter die Kontrolle der militant-islamistischen Taliban. In der Nacht zu Sonntag beendet dann eine Autobombe das Leben von mindestens acht afghanischen Polizisten in der Provinz Fariab im Norden des Landes. Vier Wochen vor dem Abzug der internationalen Truppen verschlechtert sich die Sicherheitslage in Afghanistan quasi stündlich und quer durch das Land. NATO und US-Truppen scheinen überwiegend damit beschäftigt, Truppen und tonnenweise Material aus dem Land zu schaffen oder vor Ort zu zerstören, wenn der Abtransport in keinem Verhältnis mehr zum Restwert steht.

Unterdessen bekräftigt am Sonntag auf telefonische Nachfrage des »nd« ein Sprecher des Bundesinnenministeriums, dass sich an der Haltung beim Thema Abschiebungen nach Afghanistan nichts geändert habe.

Erst am vergangenen Freitag war das Ministerium mit einer Studie konfrontiert worden, die im Auftrag der Diakonie Deutschland, Brot für die Welt und der Diakonie Hessen die Erfahrungen abgeschobener Afghanen ausgewertet hatte. Von 908 zwischen Dezember 2016 und März 2020 abgeschobenen Afghanen waren 113 im Rahmen der Studie befragt worden. Bis auf einen Betroffenen haben den Angaben zufolge alle bekannten Abgeschobenen das Land wieder verlassen oder planen dies. Zwei von ihnen haben demnach Suizid begangen.

»Die Studie ist uns bekannt. Wie üblich gehen wir inhaltlich auf Studien an dieser Stelle nicht ein«, so ein Sprecher des Bundesinnenministeriums. Ein Abschiebestopp nach Afghanistan sei derzeit nicht geplant. Man beobachte gemeinsam mit anderen Ressorts die Lageentwicklung in Afghanistan sehr sorgfältig. Die Erkenntnisse, die das Bundesinnenministerium lieber nicht kommentieren möchte, sind heikel. Sozialwissenschaftlerin und Afghanistan-Expertin Friederike Stahlmann kommt laut Diakonie in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass abgeschobenen Afghanen wegen ihrer Flucht nach Europa »Verrat, Verwestlichung, unmoralisches Verhalten oder die Abkehr vom Islam« vorgeworfen werden.

Auch die Familien von Rückkehrern seien gefährdet. Vor diesem Hintergrund fehle den Rückkehrern vielfach das überlebenswichtige familiäre Netz. Die Präsidentin von Brot für die Welt, Dagmar Pruin, forderte, die »eskalierende Dynamik der massiven Verelendung der Bevölkerung und die Sicherheitslage« müssten zu einer Neubewertung auch des Auswärtigen Amts führen. Es sei nun erstmals nach umfangreicher Recherche belegt, dass die meisten Abgeschobenen erneut geflohen seien und sich in »verzweifelter Lage in Ländern wie Iran, Pakistan, Türkei und Indien« befänden.

Der Sprecher des Bundesinnenministeriums, der gemäß der Gepflogenheiten namentlich ungenannt bleiben will, sind solche Erkenntnisse auch anders interpretierbar. Aus der Tatsache, dass jemand erneut aus einem Land in Richtung Deutschland aufbreche, ließe sich nicht unmittelbar schließen, dass das aufgrund einer objektiv vorliegenden Gefährdung geschehe. »Es gibt ganz viele Motivationspunkte, die dabei eine Rolle spielen können. Insofern, ja, ist uns bekannt, dass Menschen es mehrfach versuchen. Aber die Situation ändert sich dadurch für uns nicht«, so der Sprecher in der Liveübertragung der Regierungspressekonferenz.

Gegen diese Haltung protestierten am Samstag nach epd-Angaben dann rund 100 Aktivist*innen mit zwei Fahrraddemonstrationen in Leipzig. Afghanistan gilt nach Angaben von Pro Asyl, die sich auf den Global Peace Index berufen, als das unsicherste Land der Welt. Der überwiegende Teil der Bevölkerung sei demnach auf der Flucht. Die Aktivist*innen kritisierten, die niedrige Anerkennungsquote für Schutzsuchende aus Afghanistan in Deutschland widerspreche den Realitäten vor Ort. Erforderlich seien stattdessen ein sofortiger bundesweiter Abschiebestopp und ein Bleiberecht für afghanische Flüchtlinge, die bereits in Deutschland sind. Auch ein Familiennachzug müsse unbürokratisch und schnell ermöglicht werden. »Letzten Endes dienen Abschiebungen nämlich nur einem: Dem Aufrechterhalten des neokolonialen, rassistischen Systems der Unterdrückung von ohnehin marginalisierten Menschen«, so eine Sprecherin der antifaschistischen Leipziger Seebrücke.

Arztbesuch als Abschiebungsrisiko - Übermittlungspflicht soll aus dem Aufenthaltsgesetz gestrichen werden, damit das Menschenrecht auf Gesundheit ohne Ausnahme gilt - erst recht in Pandemiezeiten.

Bereits am Dienstag sollen bei einem weiteren Abschiebeflug vom Flughafen Halle-Leipzig aus die nächste Sammelabschiebung nach Afghanistan stattfinden. Die Linke-Innenexpertin Ulla Jelpke warf der Bundesregierung »Abschiebewahn« vor. »Niemand darf in extreme Gewalt und existenzgefährdendes Elend abgeschoben werden.« Jelpke wies angesichts des laufenden deutschen Truppenabzugs auch auf die Situation der afghanischen Ortskräfte hin und forderte, akut gefährdete Personen schnell außer Landes zu bringen, den Familiennachzug zu afghanischen Geflüchteten in Deutschland zu vereinfachen und den hier lebenden Afghanen »eine sichere Aufenthaltsperspektive« zu geben. Mit Agenturen

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