Schluss mit dem linken Umfragenbashing

Polemik gegen Umfragen ist schlechter Stil, empirisch falsch und leistet rechten Mythen Vorschub

  • Moritz Wichmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Man kann fast die Uhr danach stellen. Die Wahl ist vorbei – und irgendein Politiker beschwert sich über die Umfragen, eine beliebte Kritik, die meist von Wahlverlierern kommt. Doch das ist schlechter Stil, bedient mittelbar rechte Narrative und Propaganda-Erzählungen und ist empirisch falsch. Auch nach der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt kam es zu Umfragenbashing durch Politiker, in diesem Fall denen der Linkspartei. Linken-Fraktionsführer Dietmar Bartsch tat es subtil: »Lange Zeit wurde auch noch am heutigen Tag artikuliert, es gibt ein Kopf-an-Kopf-Rennen, ich finde, da gibt es auch eine Verantwortung von denjenigen, die Wahlumfragen erstellen«.

Die nicht ganz neue Botschaft: Umfrageforscher würden mit ihren Zahlen »Politik machen«, das Wahlverhalten der Menschen quasi direkt beeinflussen. Auch der Linke-Abgeordnete Wulf Gallert, immerhin Vize-Präsident des Landtages in Sachsen-Anhalt und langjähriger Politprofi, der eigentlich wissen müsste, wie Umfrageforschung funktioniert und das Last-Minute-Wählerwanderungen real sein können, verkündete: »Die Wirkung dieser Umfragen ist bekannt«. Er verwies außerdem darauf, dass die CDU mit ihrem Ergebnis von 37 Prozent aktuell rund 16 Prozent Vorsprung gegenüber der zweitplatzierten AfD mit ihren 20,8 Prozent erreichte. Doch gleichzeitig hätten doch die letzten Umfragen von Civey und Insa noch einen sehr knappen CDU-Vorsprung von nur einem beziehungsweise zwei Prozentpunkten gezeigt.

Die beiden Linken-Politiker sind in keiner einfachen Lage. Langjährige gesellschaftliche Trends, auf die selbst gute Wahlkämpfer kaum einen Einfluss haben, arbeiten gegen die Partei, die sich mit einer pfiffigen »Nehmt den Wessis das Kommando«-Plakatkampagne als Anwalt ostdeutscher Interessen zu profilieren suchte: der Partei sterben die älteren Wähler weg, die ostdeutsche Identität wird Jahrzehnte nach dem Anschluss der DDR weniger wichtig, sozialpolitische Themen haben keine Konjunktur oder sind wenig wahlentscheidend. In dieser Situation mussten Bartsch und Gallert also ein enttäuschendes Wahlergebnis erklären und griffen dabei - unterstützend - auch auf subtiles Forscherbashing zurück.

Doch ist der große Unterschied zwischen den letzten Umfragen und dem vorläufigen Endergebnis nicht verdächtig? Und: Hatten die Umfragen etwa keine »Wirkung«, wie Gallert sinniert? Natürlich hatten sie es, aber anders und weniger eindeutig, als der implizite Vorwurf die Umfrageforscher würden mit dem Akt des Veröffentlichens von Zahlen Politik machen, nahe legt. Tatsächlich war ja die Berichterstattung in den letzten Tagen vor der Wahl auch angesichts der letzten Umfragen von der Frage dominiert, ob die AfD zum ersten Mal stärkste Kraft werden würde und so wurde die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt zur AfD-Verhinderungswahl: Weil in letzter Minute einige Wähler, darunter laut den Infratest-dimap-Zahlen zur Wählerwanderung auch einige Nichtwähler, sich entschieden, Rainer Haseloff und die CDU zu wählen.

Wir wissen nun also das im Jahr 2021 strategisches Wählen einen Umschwung von bis zu 15 Prozent gegenüber wenigen Tage alten Umfragen ausmachen kann – zumindest bei relativ geringer Wahlbeteiligung, wo besser informierte Wähler vermutlich einen höheren Anteil der Wählerschaft ausmachen. Das kann im September mit höherer Wahlbeteiligung wieder anders sein. Jedoch: Es passt in den Trend zu höherer Volatilität in einem Wahljahr, wo die Grünen im Umfragendurchschnitt vor Kurzem zum ersten Mal auf Position eins lagen, nun aber wieder von der Union verdrängt wurden. Und es passt zu Umfragen, in denen gleichzeitig die meisten Menschen ausgerechnet Olaf Scholz für den besten Kanzlerkandidaten halten, kurz: in der plötzlich viel Dynamik möglich ist.

Umfrageforscher betonen immer wieder, dass ihre Erhebungen nur eine »Momentaufnahme« zum Zeitpunkt der Befragung sind. Das ist nur zum kleinen Teil eine Schutzbehauptung, um weniger Kritik einstecken zu müssen, wenn das Wahlergebnis einige Tage später im Regelfall einige Prozentpunkte abweicht. Es ist vor allem empirisch richtig. Auch wenn das Wahlverhalten in Deutschland meistens recht stabil und wenig dynamisch ist, zeigen Umfragen ja auch sonst selbst kurz vor der Wahl immer noch einige unentschiedene Wähler.

Und überhaupt: Was wäre die Alternative – sowohl im Fall Sachsen-Anhalt als auch generell? Die Öffentlichkeit nicht zu informieren, dass bei der kommenden Wahl womöglich mehr als ein Viertel der Wähler rechtsextrem wählen wird? Was kein unrealistisches Szenario ist angesichts einer AfD, die sich in mehreren ostdeutschen Bundesländern eine stabile soziale Basis aufgebaut hat. Umfragenbashing ist so letztlich nur eine Form von »Tötet den Überbringer der schlechten Nachricht«.

An der sollten sich in der Tradition der Aufklärung stehende Linke nicht beteiligen, zumal es nicht nur schlechter Stil und Ablenkung von eigenen Problemen ist, sondern auch der Verbreitung von rechten Verschwörungsmythen über »Eliten«, die das vermeintlich unschuldige Volk manipulieren, Vorschub leistet beziehungsweise zumindest mittelbar anschlussfähig an solche ist. Besser wäre es, zu erklären, dass Umfragen Fehlertoleranzen von rund drei Prozent haben, verschiedene Umfrageinstitute verschiedene Stichproben haben, Institute wie INSA eine gewisse, aber nur geringe Nähe zur AfD oder im Fall von Infratest zur SPD haben – kurz: die Welt zu »entmystifizieren«, sie aufzuklären eben.

Es richtig, dass die Veröffentlichung einer INSA-Umfrage in der konservativen Bild, die nur einen Vorsprung der CDU von einem Prozentpunkt zeigt und damit sowohl die AfD über- als auch die CDU unterschätzt hat, im publizistischen Interesse des Sprachrohrs der Reaktion liegt, was der Linken-Bundestagsabgeordnete Niema Movassat richtig problematisiert.

Doch richtig ist auch, dass die seiner Logik nach »seriösere« Forschungsgruppe Wahlen die CDU ebenfalls sieben Prozentpunkte »unterschätzte«, Infratest-dimap Ende Mai gar neun Prozentpunkte »weniger« ermittelte, also nah »dran war« an den CDU-Werten von INSA. Soll heißen: Die Verhinderungwahl der CDU war vermutlich selbstbestimmt und nicht überwiegend Ergebnis des Handelns finsterer Springer-Strippenzieher und Ergebnis der Wirkung von ein bis zwei Umfragen. Denn die Erzählung von der Manipulation spricht ja Wählerinnen zumindest implizit das Handeln aus eigenem Willen ab.

Laut Wählerwanderungs-Umfrage von Infratest-dimap hat die Linke übrigens nur rund zehn Prozent ihrer Wähler*innen an die CDU verloren durch eventuelle Anti-AfD-Leihstimmen. Jeweils genau so viele gingen an den Tod verloren oder wanderten ins Nichtwählerlager ab, weitere an andere Parteien. Die Problem der Linkspartei liegen offenbar nicht überwiegend an feindlicher Meinungsmache in Medien, sondern woanders.

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