Die Schwäche sozialer Parteien

Warum Linkspartei und SPD in Sachsen-Anhalt und anderswo an Bindungskraft verlieren

  • Horst Kahrs
  • Lesedauer: 6 Min.

In Sachsen-Anhalt hat sich der Niedergang von Linkspartei und Sozialdemokratie dramatisch fortgesetzt. Für die Linke entschieden sich nur noch 6,5 Prozent aller Wahlberechtigten, für die SPD 5 Prozent, zusammen 11,5 Prozent - weniger als für die AfD (12,4 Prozent). Zehn Jahre zuvor vereinigten beide Parteien noch 22,5 Prozent aller Wahlberechtigten auf sich, 1998 gar 38,7. Der Schwund ist kein konjunktureller, nicht vorübergehend und nicht regional begrenzt. Er trifft mittlerweile beide Parteien, die sich den Traditionen der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung verpflichtet fühlen, entlang der Konfliktachse Kapital versus Arbeit agieren und auf wohlfahrtsstaatliche Umverteilung und Sicherung setzen.

Die Zeiten, in denen aus den Verlusten der einen Partei die Gewinne der anderen wurde, sind vorbei. Ebenso die Zeiten großer Wahlerfolge. Ausnahmen, in denen wie in Thüringen Bodo Ramelow (Linke) oder in Rheinland-Pfalz Malu Dreyer (SPD) ihre Partei zu einem Wahlsieg mitziehen, bestätigen eigentlich nur die Regel: In unübersichtlichen Zeiten sind Personen mit Amtsbonus, deren Art und Weise des ausgleichenden politischen Handelns großes Vertrauen entgegengebracht wird, für die Wahlentscheidung wichtiger als Parteiprogramme.

Der Niedergang der Sozialdemokratie ist eine Abfolge gesellschaftspolitischer Niederlagen, an deren Beginn Anfang der 1980er Jahre die Aufgabe der Vollbeschäftigungspolitik und an deren Ende Mitte der 200Oer Jahre die Preisgabe der Statussicherung arbeitslos gewordener Lohnabhängiger stand - beides Säulen sozialdemokratischer Wahlerfolge: durch Arbeit den Status eines gleichberechtigten Bürgers erlangen und die Früchte harter Arbeit im Alter genießen zu können, ohne sie vorher für Arbeitslosenzeiten aufbrauchen zu müssen. Die Botschaft der Niederlagen war klar: Wir verfügen nicht mehr über ausreichend Macht und Einfluss, um diese sozialstaatlichen Errungenschaften zu verteidigen.

Größer werdende Löcher um Flächentarifvertrag, Verbetrieblichung der Tarifpolitik, leer laufende Mitbestimmung und sinkende Gewerkschaftsmacht, wachsende Abhängigkeit von den Entscheidungen global agierender Konzerne, allseitige Vermarktlichung verstärkten die Alltagserfahrung wachsender Abhängigkeit und mit kollektiver Gegenmacht immer weniger ausrichten zu können. Dass man sehen müsse, wo man bleibt, diese Richtschnur neoliberalen Denkens kam hinzu. Gerade unter Arbeiterinnen und Arbeitern mit einfacher und mittlerer Qualifikation im Produktions- und Dienstleistungssektor beteiligen sich bis zu 50 Prozent gar nicht mehr an Wahlen. Die Politik könne an den wirtschaftlichen Bedingungen, den schlechten Löhnen und den finanziell knappen Verhältnissen ohnehin nichts ändern, heißt es.

Und was hatte ihnen sozialdemokratische Politik nach dem Ende des neoliberalen Kahlschlags auch zu bieten? Mindestlohn, Grundrente, die Linke will zudem die Abschaffung von Hartz IV. Dagegen hat keiner etwas, aber all das ändert nichts an der proletarischen Lebenslage: Wer den Mindestlohn bezieht, bleibt am unteren Ende der Einkommen, wer von einer »Grundsicherung« lebt, steht trotzdem nicht auf eigenen Füßen. Von eigener Arbeit leben, eine Familie ernähren, sich etwas aufbauen, im Leben voran kommen - diese elementaren Ansprüche der »kleinen Leute« gegen die Herrschaft von Besitz und Eigentum kollektiv durchzusetzen, das war die emotionale, affektive Bindungskraft der sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien. Die Wahl der WASG bzw. der Linkspartei. PDS 2005 und 2009 sollte die SPD wieder auf diesen traditionellen sozialdemokratischen Weg zwingen, zeigte aber wenig Erfolg.

Natürlich: die materielle Basis gewerkschaftlicher und sozialdemokratischer Gegenmacht hat sich verändert. Die Arbeiterin ist auch Konsumbürgerin mit sich pluralisierenden Bedürfnissen. Die industrielle Handarbeit hat abgenommen, die Zahl der großen Fabriken als Rückgrat von organisierter Gegenmacht hat abgenommen, der Organisationsgrad in neuen Zentren des flexiblen Kapitalismus ist gering. Und wer sehen muss, wie er über das Monatsende kommt und seinen Alltag organisiert, der hat kaum Zeit für gewerkschaftliches oder politisches Engagement.

Entscheidend: Dort, wo sie lebt, trifft sie kaum noch auf Politik-Übersetzerinnen. Die Präsenz von Parteimitgliedern im sozialen Alltag, in den verschiedensten Vereinen, an den Kiez-Treffpunkten war das organisatorische Rückgrat von Wahlerfolgen, für den Bestand gemeinsamer Deutungen der eigenen Lage. Sie konnten Politik alltagsnah erklären, sie gaben der Partei ein Gesicht. Die PDS war noch eine derart im Alltag, im Kleingartenverein, im Mehrgeschosser gegenwärtige Partei. Ohne diese Erklärer kein anhaltendes Bewusstsein eigener Stärke und Möglichkeiten. Die älter werdenden Mitglieder hinterließen Lücken, die statt von eigenen Leuten nach und nach von Rechten gefüllt wurden. Die Jüngeren setzen auf »die Bewegungen« der Zivilgesellschaft, worunter in der Regel nicht Feuerwehr und Sportverein verstanden werden. Diese Entwicklungen der Parteien sind schwerlich rückgängig zu machen, Parteikonzepte müssen in die Zukunft neu gedacht werden.

Was gleichwohl bleibt, ist die alte Aufgabe, das Vorpolitische, Unpolitische anzusprechen. Es geht weniger darum, Ungleichheit und Ungerechtigkeit rational und statistisch sauber zu benennen, sondern darum, deutlich zu machen, warum eine Ungleichheit nicht legitim ist, warum etwas ungerecht ist, warum etwas dagegen getan werden muss und kann. Welche gesellschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen vertreten die linken Parteien? Warum bekommt wer wie viel und was kann und muss ich tun, um im Leben voranzukommen? Welche gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen müssen vorhanden sein, wofür ist dann jeder selbst verantwortlich? Woher nehme ich das Recht, Ansprüche zu stellen und nicht nur Wünsche zu haben?

Auf diese elementaren Fragen gab es von links Antworten, die der Neoliberalismus systematisch bekämpfte und erfolgreich zersetzte. Seit zehn Jahren setzt sich nun die Erkenntnis fest, dass sich auf die neoliberalen Grundsätze keine demokratisch und sozial verfasste Gesellschaft gründen lässt. Diese Leerstelle wird bisher von links schlecht gefüllt. SPD und Linke scheinen den Kontakt zum »Zeitgeist« verloren zu haben. Hierzu zählt auch, dass nach drei Jahrzehnten permanenter Umbrüche und Anforderungen an flexibles Verhalten viele Menschen froh wären, wenn es eine Zeit lang mal so bliebe wie es ist. Es ist zwar nicht gut, man kommt aber zurecht - und mit Forderungen nach zusätzlichen Veränderungen verbindet sich nicht das Vertrauen auf eine bessere Zukunft. Bei den Wahltagsbefragungen in Sachsen-Anhalt wurde eine weit verbreitete »Veränderungsmüdigkeit« ermittelt. Wer verändern will, muss glaubhaft machen, dass er Folgen und Nebenwirkungen bedacht hat.

Weiter: Die Gesellschaft formiert sich politisch nicht mehr um eine zentrale Konfliktachse. Seit Jahren konkurriert die Arbeitskraft-Kapital-Achse, die Oben-Unten-Ungleichheit, also die Verteilung von Einkommen, Vermögen und Bildung, Ausbeutung und Herrschaft, mit zwei weiteren Achsen: mit der Wir-Sie-Ungleichheit, bei der es um Diversität, Identität und Anerkennung geht; und mit der Innen-Außen-Achse, bei der es um Zugehörigkeiten, um Migration, um den Nationalstaat in der globalisierten Welt geht. Alle Achsen entziehen sich zudem einer eindeutigen sozialstrukturellen Zuordnung, sie sind in allen Schichten und sozialen Klassen anzutreffen. Die in beiden linken Parteien heißlaufenden Debatten um Identitätspolitik, Klassenpolitik und Selbstgerechtigkeit zeigen an, wie entfernt eine produktive emanzipatorische Verknüpfung der Ungleichheitskonflikte noch ist.

Das jüngste Wahlergebnis führt schließlich erneut eindringlich vor Augen, dass die Erneuerung sozialer und demokratischer Politik als Mehr-Generationenprojekt gedacht werden muss: Ein großer Teil der Wählerschaft der Linken ist älter aus 60 Jahre, die nächstfolgende Generation der Ende der 1960er Jahre Geborenen ist schwach vertreten.

Die Jüngeren, nach 1990 Geborenen, bringen neuen Schwung: in die Parteien, in die gesellschaftlichen Kämpfe. Aber ihre Generation ist zahlenmäßig zu klein, um ohne oder gegen die Älteren in den beiden kommenden Dekaden Wahlerfolge erzielen zu können. Gelänge es jedoch, die sozialökologische Transformation als politisches Mehr-Generationen-Projekt auszubuchstabieren, brächte das womöglich eine Kehrtwende zu nachhaltigen Wahlerfolgen.

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