Jahrmarkt für Vorgebildete

Berlinale Encounters: »Blutsauger« ist eine marxistische Vampirkomödie, die zwischen allen Zeiten spielt

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

Das sind Filme, auf die man wartet, zumeist vergeblich. Filme, die mit bösem Witz ein ernstes Thema umkreisen. Hier den Kapitalismus und die Vampire. Schließlich den Kapitalismus als Vampir.

Regisseur Julian Radlmaier, Mitte dreißig, fiel bereits mit seinem Erstling »Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes« auf. Nun also diese »marxistische Vampirkomödie«, die zwischen allen Zeiten, zumeist aber im Jahre 1928 an der Ostsee spielt. Alles atmet hier jenen grotesken Geist, mit dem zuletzt Frank Castorfs Volksbühne ihren sehr speziellen Realismus begründete. Lilith Stangenberg kommt von Castorf und ist hier Octavia Flambow-Jansen, die ortsansässige Jung-Kapitalistin ohne Skrupel. Sie verliebt sich in den aus der Sowjetunion geflüchteten Fabrikarbeiter Ljowuschka, der fast Karriere als Schauspieler in Sergei Eisensteins »Oktober« gemacht hätte. Sogar mit einer prägenden Rolle: Trotzki als Revolutionsführer. Leider befahl Stalin, Trotzki ganz aus dem Film herauszuschneiden. Und nun ist Ljowuschka, als Adliger verkleidet, auf der Flucht - nach Hollywood.

Alexandre Koberidze (der als Regisseur mit »Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?« auch im Berlinale-Wettbewerb vertreten ist), spielt diesen Ljowuschka als verlorene Seele, die mannhaft die Traumreste in sich verteidigt. Seine Melancholie wächst ins schier Unendliche, und so passt er hervorragend zu der ohnehin immer leicht somnambul agierenden Lilith Stangenberg.

Den Regiestil kann man exzentrisch nennen, aber auf eine sympathische Weise und immer die Schauspieler in den Vordergrund rückend. Nichts scheint hier vorsätzlich geglättet, denn es ist auch ein Spiel mit der eigenen Unbeholfenheit, die zu jeder echten Komik gehört. Hilf dir selbst? Meistens ist einem dann gar nicht mehr zu helfen.

Damit klar ist, um was für Vampire es sich hier handelt, wohnen wir einem improvisierten Marx-Seminar in den Dünen des Seebads bei. Das »Kapital« und die zentrale Frage, was Mehrwert ist, stehen zur Debatte. Da kann man zusammen mit den Kursteilnehmern, die nicht gut vorbereitet scheinen, aber dennoch eine feste Meinung haben, etwas lernen. An einem Satz entzündet sich die Debatte vor allem: »Kapital ist verstorbene Arbeit, die sich nur vampirmäßig belebt.« Heißt das jetzt, der Kapitalist ist ein Vampir, der den Arbeitern das Blut aussaugt? Und ist das wortwörtlich zu verstehen oder nur ein Bild?

In diesem Falle hat Marx sich bei Voltaire bedient - heute fiele diese Art durchaus fruchtbarer Ideenklau wohl unter das Verdikt »kulturelle Aneignung« und würde gecancelt. Voltaire hatte als erster gefragt, wo denn heute die Vampire säßen - und auf die Bankhäuser gezeigt. Aber was heißt das schon, wenn es jemanden gibt, der anderen diese typischen Bisswunden am Hals zufügt. Das deutet doch mehr auf den bluttrinkenden altmodischen Vampir hin als auf den modernen Kapitalisten, der sich bekanntlich mit dem Aussaugen von Arbeitskraft begnügt.

»Blutsauger« besticht mit einem selten gewordenen freien Geist. Natürlich, das ist hier offenbar kein Geheimnis, treibt Octavia Flambow-Jansen selbst in Personalunion als ortsansässige Kapitalistin und als ortsansässiger Vampir ihr Wesen, das man nicht vorschnell als Unwesen bezeichnen sollte. Sie ist nun mal, für einen Vampir ohnehin, noch sehr jung - und darum sehr egoistisch, von regelmäßigen Anfällen allgemein gehaltener Menschenliebe abgesehen. Darum jagt sie auch niemand, man bemüht sich vielmehr, gut mit ihr auszukommen. Jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt.

Da hat sich ihr Diener (den sie nur ihren »persönlichen Assistenten« nennt und dem sie vergeblich das Du aufzudrängen versucht), bereits mittels eines beherzten Bisses in einen am Wegrand wachsenden Fliegenpilz umgebracht, rücksichtslos wie er ist. Auch er geht nun als Untoter umher und hat neu erworbene Weisheiten zu verbreiten: »Man sieht die Dinge durchaus klarer, wenn man nicht mehr so ins Leben verstrickt ist.«

Dies hier ist ein Jahrmarkt für Vorgebildete, alternde Seminaristen, die sich etwa an der vorwurfsvollen Bemerkung freuen können, in Hegels »Ästhetik« komme das Kino nicht vor. Ljowuschka, der in seiner Reise als falscher Adliger an der Ostsee Station macht, muss sich fragen lassen, ob auch er nun ganz und gar Octavia Flambow-Jansen verfallen sei, die ihn zu belehren weiß: »Sie haben unsere Demokratie noch nicht richtig verstanden.« Dann muss er sich erst mal die Hände waschen gehen. Das hilft immer. Überhaupt: »Eine gutbürgerliche Lebensweise schützt.« Wovor eigentlich?

»Blutsauger« wird zum filmischen Fest, zelebriert als welthistorischer Unfall. Er besitzt den entscheidenden Vorzug der Selbstironie, woran sich wunderbarerweise die Geister scheiden werden.

»Blutsauger«: Deutschland 2021. Regie und Buch: Julian Radlmaier. Termine: 17.6., 22 Uhr, Arte-Sommerkino Kulturforum; 18.6., 21.30 Uhr, Freiluftkino Biesdorfer Parkbühne.

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