Wer pocht an Preußens Tore?

Erika und Gerhard Schwarz zeichnen anhand von Kriegstagebüchern den Sturm der Roten Armee auf Berlin nach

  • Manfred Weißbecker
  • Lesedauer: 6 Min.

Um es vorweg zu sagen: Den Autoren ist ein aussagestarker, anregender und beeindruckend gestalteter Band gelungen. Ihn zur Kenntnis zu nehmen, lohnt sich für jeden, den geschichtliche Tatsachen und Probleme bewegen, selbst wenn der Titel des hier vorzustellenden Bandes eher lokalgeschichtlich Interessierte anzusprechen scheint. Außerordentlich detailreich wird vor allem analysiert, was in den vier Tagen vom 18. bis zum 21. April 1945 in den brandenburgischen Orten Rehfelde sowie Werder und Zinndorf geschah: Auf einer Breite von acht Kilometern rückte die 8. Gardearmee mit umfangreichem Gerät und 80 000 Mann von Seelow vor und eroberte - erst später wird es berechtigt heißen: befreite - Schritt für Schritt märkische Ortschaften.

Auf der Grundlage neu erschlossener Quellen versetzen Erika und Gerhard Schwarz den Leser in die Schlacht vor den Toren der deutschen Hauptstadt, auch in das alltägliche Leben, Kämpfen und Sterben sowjetischer Soldaten und Offiziere. Der Leser kann förmlich nachvollziehen, wie erbarmungslos der Krieg war, welche Wunden er schlug. Die Autoren beleuchten die Gefechte entlang der »Reichsstraße 1« und einen bislang wenig beachteten Teil der Berliner Operation sowjetischer Truppen.

Es bleibt nicht bei Beschreibungen, obgleich allein diese den Leser in ihrer klaren Diktion und Verständlichkeit beeindrucken. Allem voran steht die Frage: Warum mussten so viele Frontkämpfer sinnlos sterben, da doch der Krieg bereits entschieden war? Warum gab es unter deutschen Bürgerinnen und Bürgern so viel Leid, das zu ertragen war, so viele Opfer, die nicht hätten sein müssen?

Wer Antworten sucht, findet sie zunächst und vor allem im Geschehen jener Zeit, die dem 22. Juni 1941 folgte. Die Autoren legen dar, dass die UdSSR wegen vielgestaltiger wirtschaftlicher, geopolitischer und auch ideologischer Interessen eines großen Teils der deutschen Eliten überfallen wurde. Es ging um das Erobern großer Gebiete, die kolonial beherrscht und ausgebeutet werden sollten - irreführend bezeichnet als Gewinnung von »Lebensraum«. Die deutschen Faschisten strebten eine Vorherrschaft auf dem europäischen Kontinent an, darüber hinaus eine dominierende Machtstellung in der Welt. Auf sowjetischem Boden sollte nicht nur die »jüdisch-bolschewistische Führungsschicht« beseitigt werden, weitere Programme zielten auf das Ermorden der Juden und auf das Dezimieren großer Teile der slawischen Bevölkerung. Der faschistische Feldzug gegen die UdSSR war gekennzeichnet durch eine neue und skrupelloser als je zuvor dagewesene Dimension kriegerischer Gewalt.

Der Band beginnt mit einem Kapitel, dessen Titel Hitlers Worten entnommen wurde: »Russland muss erledigt werden«. Es greift zurück auf alte Expansionsgelüste deutscher Eliten und erläutert eingehend die Ziele des »Planes Barbarossa« sowie dessen barbarische Umsetzung. Widerlegt wird die Behauptung der Nazis (und derjenigen Autoren, die sie in Folge aufgegriffen haben), man habe einen Präventivkrieg führen müssen. Ferner werden jene Kämpfe, in denen die deutsche Wehrmacht »verbrannte Erde« zurückließ, als Vorboten des Marsches auf Berlin vorgestellt.

In einprägsamer, trotz der Material- und Problemfülle knapper Weise behandeln die Verfasser den ohne Kriegserklärung begonnenen und bis dahin in unbekannter Grausamkeit geführten bestialischen Eroberungs- und Vernichtungskrieg. Die in der Literatur oft genannte Zahl von 27 Millionen ermordeter, gefallener und am Krieg gestorbener Bürger der Sowjetunion, darunter viele Juden, könnte sogar zu gering angesetzt sein.

Die Autoren schlussfolgern: Es kehrte 1945 nicht irgendein Krieg in das Land der Deutschen zurück. Der grausam und erbarmungslos geführte Beute- und Vernichtungskrieg gegen die sowjetische Bevölkerung konnte nicht folgenlos bleiben. Ein Foto auf Seite 38 spricht Bände: Ein erwartungsvoll blickender Rotarmist steht vor einem Schild mit der Aufschrift: »Hier beginnt das verfluchte Deutschland.« Was ihn bewegt, kann den Worten entnommen werden, die der sowjetische Schriftsteller Ilja Ehrenburg im August 1944 niederschrieb: »Unser Marsch nach Deutschland folgt auf drei finstere Jahre, folgt auf die Ukraine, auf Weißrussland, die Asche unserer Städte, das Blut unserer Kinder. Wehe dem Land der Mörder! An der deutschen Grenze stehen nicht nur unsere Truppen. Die Schatten der Opfer stehen dort. Wer pocht an Preußens Tore? Die Toten, Ermordeten, im Gas erstickten, im Feuer Umgekommenen, die Alten von Trostinez, die Kinder von Babi Jar, die Märtyrer von Slawuta, der Staub und die Asche aus den Öfen, in denen die Deutschen Millionen wehrloser Menschen verbrannt haben.«

In jenen Tagen, die im Band behandelt werden, war der Krieg längst entschieden, die Niederlage des Deutschen Reiches unabwendbar. Dennoch tobten im Frühjahr 1945 zwischen der Oder und Berlin unerbittliche Gefechte, opferreich und folgenschwer. Diese letzte große Schlacht auf deutschem Boden begann am 16. April 1945 mit den Kämpfen um die Seelower Höhen und endete am 8. Mai 1945, dem Tag der Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation durch die Wehrmacht.

Erika und Gerhard Schwarz bemühen sich um einen erhellenden Zusammenklang von Militär- und Alltagsgeschichte. Sie schreiben Kriegsgeschichte gleichsam »von unten«. Sie ergründen, was die Angehörigen des 8. sowjetischen Gardearmee, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und die Zivilbevölkerung im rücksichtslosen Grauen unmittelbar erlebten. Genutzt wurden Tausende Originaldokumente der Roten Armee, Kriegstagebücher verschiedenster Truppenteile, Kommandeursbefehle, Stabskarten, Gefechtsanalysen, Skizzen und nicht zuletzt auch unmittelbar nach jedem Einsatz niedergeschriebene Berichte. Was in Eile und zeitnah notiert wurde, kann nur mit innerer Bewegung und menschlicher Anteilnahme gelesen werden. Das Ausmaß der Opfer erschüttert. Benannt werden Erfolge sowie misslungene Einsätze, Fehlentscheidungen und operative Entscheidungen. Dank solcher Quellen schließen die Autoren manche Lücken in bereits existierenden Darstellungen des Kriegsgeschehens im Frühjahr 1945.

Die Autoren verschweigen nicht, wie und weshalb sich ein Teil der Rotarmisten, entgegen der Weisung Stalins vom 19. Januar 1945 »Selbstbeherrschung wahren!« und trotz angedrohter Todesstrafe, an Zivilisten verging. Sie zitieren, was eine damals 18-jährige Scharfschützin für sich als Erklärung fand: »Unsere Arbeit war das Töten des faschistischen Feindes. Dieser hat unsere Soldaten, Freunde, Kameraden, Brüder und Schwestern auf dem Gewissen.« Die Quellen belegen aber auch, dass sich die Führungsstäbe der Roten Armee kritisch mit diesen von Rachgelüsten gespeisten Vergehen und Verbrechen befassten.

Das letzte Kapitel gilt der Vielzahl an Toten, den in fremder Erde begrabenen Angehörigen von Wehrmacht, Roter Armee und anderen Truppen der Alliierten, den am Krieg gestorbenen Gefangenen und Zwangsarbeitern sowie den Opfern unter der Bevölkerung von Rehfelde, Werder und Zinndorf. Das »Totenbuch« erstreckt sich über viele Seiten. Es bezeugt eine unermüdliche Sucharbeit nach Geburts- und Sterbedaten, nach Wohnort, militärischem Rang oder ziviler Funktion.

Erika und Gerhard Schwarz zeichnen ein detailreiches, Nachdenklichkeit erzwingendes und mahnende Erinnerungen forderndes Bild vom Geschehen in kleinen Orten der Mark Brandenburg, ein Bild, das zugleich großes »Welttheater« spiegelt.

Erika und Gerhard Schwarz: Auf dem Weg nach Berlin. Kriegstagebücher der Roten Armee berichten. Tagesetappe Rehfelde, Werder, Zinndorf. Hentrich & Hentrich, 236 S., geb., 19,90 €.

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