Überwachen für den guten Zweck

Petrosilius entwickelt Bilderkennungssoftware für Notbremsassistenten in der Autoindustrie - und will mit dieser Kompetenz Flüchtenden helfen

  • Interview: Tom Mustroph
  • Lesedauer: 7 Min.
Petrosilius: Überwachen für den guten Zweck

Mehrere Flugzeuge aus Styropor, mit etwa 1,50 Meter Spannweite liegen halb ausgeweidet in einer Werkstatt des Hauses für Statistik in Berlin. Es sind Prototypen von Search Wing, an denen der Software-Ingenieur Petrosilius mitarbeitet. Petrosilius ist ein Pseudonym, das er für diese Arbeit nutzt, und mit dem er sich schützen will.

Interview

Petrosilius (Pseudonym) ist Entwickler für Bilderkennungssoftware. Diese kommt zum Beispiel bei Notbremsassistenten in der Autoindustrie zum Einsatz. Privat arbeitet er ehrenamtlich für Search Wing. Das Projekt aus Berlin und Augsburg entwickelt Drohnen, mit denen Rettungsorganisationen die Meere nach Geflüchteten absuchen und in Seenot geratene Personen schneller erkennen und besser bergen können. Im Interview spricht Petrosilius über maschinelles Lernen, Frontex und die Brutalität der libyschen Küstenwache.

Seit wann bauen Sie Flugzeuge und Drohnen im Rahmen des Projekts Search Wing?

Das begann für mich vor etwa dreieinhalb Jahren. Search Wing gibt es schon fast fünf Jahre. Leute aus dem Umfeld des Chaos Computer Clubs und Leute von Search Wing hatten die Idee, dass man mit kleinen Fliegern die Rettungsschiffe der NGOs im offenen Meer unterstützen könnte. Es gibt ja einen Bedarf, das Meer aus der Luft zu überblicken und Menschen in Not zu finden.

Einige Rettungsorganisationen setzen bereits Flugzeuge ein. Wir wollen aber eine kostengünstige Variante entwickeln. Ich selbst bin durch ein Einsatz-Video von Sea-Watch noch einmal intensiver mit dem Thema konfrontiert worden. Man sah, wie die libysche Küstenwache im Zuge ihrer illegalen Push-Back-Operationen vorgeht. Man sah die ganze Brutalität, mit der Menschen aus dem Boot gezerrt werden, um sie zurück nach Libyen zu bringen - und wie einige dabei ertrinken. Dann denkt man darüber nach, was man selbst tun kann. Schiffe sind natürlich eine Möglichkeit. Aber das machen ja auch schon andere. Die Idee mit den Fliegern war einfach überzeugend.

Was können die Flieger, wenn sie eingesetzt werden, überhaupt leisten? Und wie starten sie?

Man hält sie in der ausgestreckten Hand, der Motor wird gestartet, dann wirft man sie in die Luft, und dann fliegen sie auch schon los. Sie starten horizontal, wie Flugzeuge eben. Das kann man vom Schiff aus machen und auf diese Weise eine schnelle Luftaufklärung vor Ort ermöglichen. Häufig erhält man ja die Nachricht, dass sich vielleicht 100 Kilometer in einer bestimmten Richtung Menschen in Seenot befinden. Wenn man dann ein Schiff zur Überprüfung hinschickt, dauert das eine ganze Weile, und man verbraucht auch viel Treibstoff. Idealerweise schickt man dann einen kleinen Flieger. Er macht Bilder, überträgt sie; wir können sie validieren und dann hinfahren.

Ganz trivial sind die Herausforderungen ja nicht. Der Flieger muss vom Schiff aus gestartet werden können, auch bei Seegang. Er muss Salzwasser vertragen. Die Bilderkennung muss zuverlässig sein. Viel kosten darf es auch nicht. Und der Flieger sollte sich auch rein optisch von jenen Kampfdrohnen unterscheiden, durch die manche Menschen, die jetzt auf der Flucht sind, vielleicht bereits Angehörige oder Freunde verloren haben. Wie lösen Sie das alles?

Wir haben den Flieger so konzipiert, dass er auf dem Wasser landet. Ursprünglich hatten wir vor, dass er auch wieder auf dem Schiff landet. Aber dazu braucht man Platz, und der Platz wird ja für die Menschen gebraucht. Außerdem könnte eine Landung bei vielen Menschen auf Deck gefährlich werden. Also haben wir gedacht: Diese Crews haben schon so viel Erfahrung, Personen und alle möglichen Objekte aus dem Meer zu bergen, dass sie dann auch die Flieger aus dem Wasser holen können. Wir haben das auch getestet, 15 Starts und Landungen hintereinander in der Ostsee. Das klappt.

Der Flugkörper selbst ist aus Styropor. Die gesamte Elektronik umgeben wir mit einer wasserdichten Hülle, die wir mit einem 3D-Drucker herstellen. Zusätzlich werden alle außen liegenden Teile mit Klebern abgedichtet, sodass kein Wasser eindringt. Beim Motor setzen wir, um dem Verrosten durch das Salzwasser vorzubeugen, Kugellager aus Edelstahl ein.

Wie funktioniert die Bildauswertung?

Wir haben zwei Kameras eingebaut, die mit einem Öffnungswinkel von 62 Grad von oben das Meer absuchen und alle zwei Sekunden ein Bild auslösen. Wir haben eine Flughöhe gewählt, bei der die Boote noch ungefähr 20 mal 30 Pixel groß sind. Wir können damit einen Suchstreifen von zwei Kilometern abdecken. Klar, das Mittelmeer ist riesig, da ist das immer noch ein Tropfen auf den heißen Stein. Aber wenn es gut funktioniert, würde man mehrere Flieger auf einmal einsetzen, und dann wäre das Ganze noch effizienter.

Die Übertragung erfolgt in Echtzeit? Und schauen sich das Menschen an, oder wird die Analyse Computern überlassen?

Zurzeit ist es so: Wir landen im Wasser, der Flieger wird aus dem Wasser aufs Schiff genommen, und die Bilder werden dann auf einen Computer auf dem Schiff übertragen. Dort findet dann eine automatische Auswertung statt, durch eine künstliche Intelligenz, obwohl ich den Begriff eigentlich nicht mag.

Es ist eine Mustererkennung, die wir darauf trainiert haben, Boote zu erkennen. Die Ergebnisse werden so präsentiert, dass sie dem Menschen nicht die Entscheidung abnehmen, sondern eine Vorsortierung anbieten. Denn man kann sich auf keinen der Algorithmen verlassen.

Es ist also eine Sortierung nach Wahrscheinlichkeiten: Hier ist ein Boot, hier könnte ein Boot sein, hier wohl nicht, aber wir können es nicht ausschließen?

Genau. Es werden zuerst die Bilder präsentiert, die mit einer höheren Wahrscheinlichkeit ein Boot enthalten. Ein grüner Punkt bedeutet, dass wahrscheinlich kein Boot zu sehen ist. Ein roter Punkt, dass da sehr wahrscheinlich ein Boot ist. Das Boot wird auch durch einen Rahmen markiert. Man kann hineinzoomen und es sich genauer ansehen.

Bei diesem Bild hier fällt mir auf, dass das Boot selbst schwieriger zu erkennen ist als das Kielwasser, das es verursacht. Worauf werden die Algorithmen trainiert?

Auf ganz verschiedene Formen und Muster. Leider kann man das nicht genau nachvollziehen. Das ist ein Prinzip beim maschinellen Lernen. Man hat einen Trainingssatz von Bildern, und die Software lernt dann, welche Eigenschaften wichtig sind, um ein Boot zu erkennen.

Die Algorithmen für die Bilderkennung werden von Ihnen selbst entwickelt? Oder kaufen Sie die Programme ein?

Wir entwickeln das selber. Die Daten, mit denen wir sie trainieren, gibt es teilweise frei verfügbar im Netz. Wir haben aber auch schon eigene Daten eingeflogen. Im Idealfall müssten wir ganz viele Bilder von Booten von geflüchteten Menschen haben. Darüber verfügen wir leiden nicht. Das ist ein kritischer Aspekt. Wir hoffen, dass es auch mit Bildern von Booten von nicht geflüchteten Menschen funktioniert, können das aber nicht garantieren. Das ist ein weiterer Grund, warum wir die Entscheidung nicht der Technik überlassen wollen.

Angesichts der Totalüberwachung unseres Globus verwundert es mich, dass so wenig Fotos zum Lernen vorliegen. Da kreisen doch andauernd Satelliten über dem Mittelmeer, Flugzeuge sind im Einsatz. Es sollte doch Material in rauen Mengen geben, oder?

Ja, das Mittelmeer ist das bestüberwachte Meer der Welt. Das Problem ist, dass dieses Material für uns nicht existiert. Frontex und andere EU-Institutionen haben Zugriff auf das Bildmaterial von Drohnen, Satelliten und Flugzeugen. Sie bekommen hochaufgelöste Daten in Echtzeit in das Frontex-Hauptquartier in Warschau gestreamt. Aber wir als zivile Akteure müssen uns das selbst beschaffen oder auf Kooperationen mit NGOs hoffen.

Wann, denken Sie, können Ihre Flieger erstmals im Einsatz sein?

Wir sind mit verschiedenen NGOs in Kontakt, um sie bei ihren Missionen zu begleiten und weitere Tests zu machen.

Wie teuer wären die Flugzeuge?

Es handelt sich ja nur um die Materialkosten. Die sollten bei ungefähr 1000 Euro liegen, und dann noch einmal 1500 Euro für die Technik, die auf dem Schiff benötigt wird.

Wenn Sie alle Ihre Arbeitskosten hochrechnen würden, wie viel wäre das?

Das weiß ich nicht. Wir machen es ja in unserer Freizeit, aus innerem Antrieb. Die Kerngruppe umfasst etwa zwölf Leute. Regelmäßig arbeiten noch Studentengruppen der Uni Augsburg mit.

Können Sie noch weitere Menschen mit Interesse und technischem Know-how gebrauchen?

Natürlich. Softwareentwickler werden dringend gebraucht. Auch Flugzeugingenieure wären nicht schlecht für das Design der Maschinen.

Geben Sie die Software als Open Source auch für andere frei ?

Das ist eine wichtige Frage. Das Problem dabei ist: Wer setzt die Software ein, und wie kann man kontrollieren, wer es ist und wie er sie einsetzt? Wir wollen verhindern, dass sie in falsche Hände gelangt, und deshalb stellen wir sie nicht einfach frei zur Verfügung.

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