Die 80er kommen nicht zurück

Trotz steigender Mordraten gibt es vermutlich keine Wiederauflage der Null-Toleranz-Politik in den USA, meint Moritz Wichmann.

  • Moritz Wichmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Kommt jetzt der Backlash gegen die Black-Lives-Matter-Bewegung und die progressive Justiz- und Polizeireform in den USA? Das pfeifen die US-Zeitungskolumnisten seit Wochen in ihren Kommentaren zur Bürgermeisterwahl in New York City von den Dächern. Zeigt die hohe Zustimmung und nun erfolgte Wahl des »harten Hunds« Eric Adams, dass verängstigte Wähler in New York – und bald auch anderswo – eine Rückkehr zur Politik der harten Hand wollen?

Was ist passiert? In Amerikas größter Stadt, aber auch in vielen anderen Metropolen in den Vereinigten Staaten steigt die Zahl der Totschläge und Morde seit anderthalb Jahren wieder an, nachdem sie seit Anfang der 90er Jahre kontinuierlich gesunken war. Laut ersten Regierungszahlen stieg die Mordrate 2020 landesweit um 25 Prozent (die meisten anderen Verbrechen waren rückläufig), dieses Jahr setzte sich der Trend fort. Im vergangenen Jahr gab es 468 Morde in New York – doppelt so viele wie noch 2019.
Gleichzeitig zeigten Umfragen »Verbrechen« als wichtigstes Thema für Wähler an. Ende Juni errang Eric Adams die meisten Stimmen in der Vorwahl und hat damit in der Demokratenhochburg New York das Bürgermeisteramt sicher.

Der ehemalige Polizist hat sich im Wahlkampf in Sicherheitsfragen eher rechts positioniert und sprach sich gegen die bei Aktivisten beliebte Forderung »defund the police« (Reduziert die Polizei) aus. Schon Ende der 80er Jahre gab New York City die Richtung an. Der harte Hund Rudy Guiliani, erst Staatsanwalt und später Bürgermeister, machte sie zur Geburtsstadt des Null-Toleranz-Polizeikonzepts, schon kleine Vergehen drakonisch zu bestrafen. Viele andere Städte im Land und auch weltweit folgten. Progressive Reformer verbrachten Jahre damit zu versuchen, den Schaden dieser Politik rückgängig zu machen.

Zuletzt gab es in den USA – mit dem Rückenwind der Black-Lives-Matter-Bewegung – eine Welle progressiver Wahlsiege im »criminal justice«-Sektor. In vielen Fällen übernahmen progressive Demokraten bei Staatsanwaltswahlen in großen Städten und Landkreisen die für die Sicherheit und öffentliche Ordnung zuständigen Ämter von konservativeren Demokraten. Bisher gibt es keine Anzeichen für ein Ende dieser Bewegung.

Tatsächlich haben die Wähler gerade Ende Mai Reform-Posterboy Larry Krasner in Philadelphia wiedergewählt – trotz auch dort steigender Mordraten. Krasner hatte 2017 mit weitreichenden Transformationsversprechen das Amt des Bezirksstaatsanwalts übernommen. Er entkriminalisierte beispielsweise den Besitz von Marihuana und reduzierte Haftstrafen bei gutem Benehmen. Dieses Jahr machten konservative Demokraten und die mächtige Polizeigewerkschaft der Stadt für seinen Gegenkandidaten mobil – und verloren in der Vorwahl krachend, die Wähler wollten eine Fortsetzung von Krasners Politik.

Progressive Reformer werden auch in Zeiten steigender Verbrechensraten nicht von den Wählern abgestraft, wenn sie argumentieren, dass gerechtere Justizpolitik Kriminalität effektiver bekämpfen kann. In Buffalo, immerhin zweitgrößte Stadt im Bundesstaat New York, hat zuletzt die demokratische Sozialistin und Aktivistin India Walton die Bürgermeistervorwahl gewonnen – mit einer Politik gegen hohe Mieten. Sie suchte aber auch die Nähe zu Black Lives Matter, wenngleich sie nicht alle Forderungen übernahm.

Und in der Stadt New York? Bei den Bürgermeisterwahlen setzten sich parallel zu Adams’ Vorwahlsieg bei weiteren Ämtern progressive Demokraten durch, sie dürften Stadtrat und Stadt weiter nach links rücken. Bei näherem Hinsehen bleibt von dem vermeintlichen Umdenken zur harten Polizeipolitik in den USA nicht viel übrig.

Die Gründe: Weiße Demokratenwähler sind liberaler in ihren Einstellungen geworden, die Angstmache vor anwachsendem Verbrechen ist heute weniger effektiv. Außerdem sind die Folgen der jahrelangen Null-Toleranz-Politik – etwa Polizeigewalt gegen Minderheiten sowie hohe Inhaftierungsquoten für inzwischen mehrheitlich nicht mehr als bestrafungswürdig angesehene Delikte wie Marihuana-Besitz – noch deutlich sichtbar. Und: Die USA sind weit von den hohen Mordzahlen der 80er und frühen 90er entfernt. Die Zeichen stehen – zumindest vorerst – weiter auf Reform. Es geht vor allem um die Frage, wie schnell die Veränderungen vorangetrieben werden.

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