Der erste Zwangsverwalter geht

Proteste in Istanbuler Boğaziçi-Universität führten zur Absetzung von Rektor Melih Bulu

  • Svenja Huck
  • Lesedauer: 4 Min.

Nach sieben Monaten andauernder Proteste scheint an der Boğaziçi-Universität in Istanbul ein Sieg errungen zu sein. Der Anfang Januar per Dekret eingesetzte Rektor Melih Bulu wurde jüngst ebenfalls per präsidialer Anordnung wieder seines Amtes enthoben. Zunächst herrschte deshalb unter den Studierenden und Lehrenden der Universität Freudenstimmung. Während die einen dies mit »So wie er gekommen ist, so geht er nun auch« kommentieren, ist für die anderen klar: der Rektor wurde nicht einfach entlassen. Ihre hartnäckigen Proteste zwangen die Regierung in dieser Angelegenheit zum Rückzug. Obwohl mit Naci İnci bereits ein neuer Rektor bestimmt wurde, ist der Abzug Bulus ein Erfolg der Studierendenbewegung und der demokratischen Opposition. Im Laufe der Proteste wurden Bündnisse gebildet, die sich von Anfang an mit anderen sozialen Kämpfen solidarisierten und immer wieder auch betonten, dass nicht einer, sondern alle Zwangsverwalter gehen müssen.

Die Einsetzung von Bulu als Rektor löste im Januar Proteste weit über den Boğaziçi-Campus hinaus aus. Bulu hatte zwar selbst an der Boğaziçi Universität studiert, gehörte jedoch zum Zeitpunkt seines Amtsantritts nicht zum Lehrkörper und wurde somit auch nicht vom Lehrpersonal gewählt. Kandidat bei einer Wahl war Bulu bisher nur in der AKP, für die er 2009 und 2015 als Bürgermeister- beziehungsweise Parlamentskandidat antreten wollte - er scheiterte jedoch schon bei der parteiinternen Auswahl. Hinzu kamen Plagiatsvorwürfe gegen Bulu in seinen Abschlussarbeiten und wissenschaftlichen Publikationen. Wie verschiedene türkische Medien nun berichten, möchte Bulu nach seiner Absetzung das Land verlassen.

Durch die Ernennung Bulus fürchteten Studierende und Lehrende an der Boğaziçi Universität eine politische Umstrukturierung im Sinne der Regierungspartei. Die Uni auf der europäischen Seite Istanbuls ist eine der letzten Bildungseinrichtungen im Land, an denen noch ein relativ liberales Curriculum unterrichtet wird. Innerhalb weniger Tage organisierten sich Studierende in der Gruppe »Boğaziçi Solidarität«. Zahlreiche Dozierende trafen sich jeden Tag auf dem Unigelände und verlasen eine Protestmitteilung - während sie dem Rektorenbüro demonstrativ den Rücken zukehrten. Protestdemonstrationen liefen vom Campus in die Innenstadt und trafen dabei auf massive Polizeigewalt. Hunderte Studierende, auch von anderen Universitäten, wurden inhaftiert und berichteten anschließend, gefoltert worden zu sein. Im Juni verkündete die Universitätsleitung, den an den Protesten beteiligten Studierenden ihre Stipendien zu entziehen. In den letzten Tagen erklärten zudem Studierende, auf Studienplätze im Ausland verzichten zu müssen, da ihnen nach ihrer Verhaftung eine Ausreisesperre auferlegt worden war.

Die »Boğaziçi Solidarität« erklärte dennoch unmittelbar nach der Entlassung von Bulu, dass ihre Forderungen nach wie vor gültig seien und sie ihren Widerstand bis zu deren Erfüllung fortsetzen würden. Unter anderem fordern sie alle Verfahren gegen die Protestierenden einzustellen, den neuen Rektor durch eine Wahl der Universitätsangehörigen zu bestimmen, den Abzug der Polizei vom Universitätsgelände sowie die Schließung des Hochschulrats YÖK. Des Weiteren solle dem »LGBTI+«-Club der Universität sein Status als solcher wieder zuerkannt werden. Im Zuge der Proteste spielte die »LGBTI+«-Bewegung eine wichtige Rolle, die Regenbogen-Fahne wurde zu deren Symbol. Nachdem im Rahmen einer Ausstellung auf dem Campus eine Collage gezeigt wurde, die die Kaaba in Mekka umringt von Regenbogenfahnen zeigte, bezeichnete der Innenminister Süleyman Soylu sie als »Perverslinge«, der »LGBTI+«-Club wurde verboten.

Auf Bulu folgt nun der Physikprofessor Naci İnci, ein Mitarbeiter Bulus. Eine der ersten Amtshandlungen des neuen Rektors war die Entlassung des Dozenten Can Candan, der seit 14 Jahren an der Boğaziçi Universität lehrt und während der vergangenen Monate wesentlich an der öffentlichen Verbreitung der Proteste gegen Bulu beteiligt war. Außerdem ist Candan der akademische Betreuer des »LGBTI+«-Clubs. Als offizielle Erklärung für seine Entlassung nannte das Rektorat ein Disziplinarverfahren wegen Beleidigung der Universitätsleitung und eine zu geringe Anzahl von Unterrichtsstunden. Mit Candan solidarisierten sich zahlreiche Akademiker*innen auch über die Landesgrenzen hinaus. Der Dozent kündigte an, er werde trotz Entlassung seine Kurse unterrichten.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal