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Stochern in den Trümmern

Auch am Tag nach der Explosion in einer Müllverbrennungsanlage ist die Ursache unklar

Leverkusen-Mitte am Dienstagmittag. Die Einkaufsstraße am Wiesdorfer Platz ist fast menschenleer. Es sieht aus, wie an einem Sonntag, nur dass in den geschlossenen Geschäften die Verkäufer sind. Eine junge Frau, die in einem Klamottenladen beschäftigt ist, steht vor der Tür des Geschäfts und raucht. Sie erzählt, dass man am Morgen vor den Auswirkungen der Explosion im Chempark gewarnt worden sei. Weil empfohlen wird, dass sich niemand draußen aufhalten solle, hätten ihre Chefs entschieden, dass der Laden geschlossen bleibe, solange die Warnung besteht.

Schlimm sei es nicht, den Laden geschlossen zu halten. »Wir haben auch so genug zu tun, neue Ware einräumen, solche Sachen«, erzählt sie. Die riesige Rauchsäule hat die junge Frau auch gesehen. Hat sie Angst? Ist sie wütend, dass die Stadt und das riesige Chemiepark-Gelände direkt aneinander liegen? Die klare Antwort ist »nein«. Sie erklärt, dass auch ihre »halbe Familie« bei »Bayer und so weiter« arbeite. Leverkusen profitiere von der Industrie. Das seien gute und sichere Jobs. Klar, es könne etwas passieren. Das sei aber ja nicht die Regel. Als sie aufgeraucht hat, geht sie zurück in den Laden. Genau wisse man ja nicht, was passiert ist und was jetzt in der Luft liegt.

Die Informationslage an diesem Tag ist in Leverkusen und in den umliegenden Städten äußerst unübersichtlich. Auch im 30 Kilometer entfernten Wuppertal berichten Menschen von einem Geruch nach Lösungsmitteln in der Luft. Selbst das 60 Kilometer entfernte Dortmund warnt am Nachmittag kurzzeitig vor einer Geruchsbelästigung. Insgesamt gibt es zahlreiche Warnungen und Entwarnungen. Am Tag nach der Explosion besteht nur noch eine Warnung für das Stadtgebiet Leverkusen. Rußpartikel, die niedergegangen sind, sollen nicht selbst entsorgt, Spielplätze und Gartenmöbel nicht benutzt, Obst und Gemüse aus dem Garten vorsorglich nicht gegessen werden.

Was in Leverkusen genau in der Luft lag und niedergegangen ist, ist schwer zu sagen. In der Müllverbrennungsanlage des Chemparks entsorgen Bayer und die anderen Firmen, die auf dem riesigen Gelände ansässig sind, ihre Abfälle. Die Betreiberfirma Currenta spricht von drei Tanks mit chlorierten Lösungsmitteln, die in Brand geraten seien.

Professor Martin Wilks, Toxikologe von der Universität Basel, sieht drei Gefahren die durch eine Explosion wie in Leverkusen entstehen können. Als Erstes seien »Erstickungsgase« zu nennen; die seien besonders kurz nach Beginn eines Brandes gefährlich. »Diese Gase sind besonders in Innenräumen gefährlich, verflüchtigen sich aber relativ schnell in der Umgebungsluft«, so Wilks. Eine zweite Gefahr seien Reizgase, die »akute Irritationen der Augen und oberen Atemwege verursachen, aber auch die Lunge betreffen und teils zu schwerer Atemnot führen können«. Beispiele hierfür seien Formaldehyd oder Acrolein. Die dritte Gefahr bestehe darin, dass sich Gefahrenstoffe, unter anderem als Feinstaub, in der Nähe des Brandes sammeln könnten, »aber sich auch mit der Rauchwolke über weite Gebiete verteilen und Böden sowie Pflanzen kontaminieren« können, so der Toxikologe. Das Umweltamt der Stadt Leverkusen geht von »Dioxin-, PCB- und Furanverbindungen« aus, die in die Wohngebiete um den Chempark getragen wurden.

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Die Frage, die am Tag nach der Explosion noch immer umtreibt: Wie viele Menschenleben hat sie letztlich gefordert? Bei einer Pressekonferenz erklärte Frank Hyldmar, Geschäftsführer der Betreiberfirma Currenta: »Wir müssen davon ausgehen, dass wir die fünf Vermissten nicht mehr lebend finden werden.« Hinzu kommen zwei Tote. Hyldmar erklärte, die ganze Situation sei äußerst komplex. An der Einsatzstelle werde noch immer gearbeitet, es sei dort weiterhin riskant. Die Firma arbeite mit den Behörden zusammen und wolle »alles dafür tun«, dass die Ursache aufgeklärt wird. Polizei und Staatsanwaltschaft teilten mit, dass sie wegen des »Anfangsverdachts des fahrlässigen Herbeiführens eine Sprengstoffexplosion und fahrlässiger Tötung« ermitteln. Eine Ermittlungsgruppe wurde eingerichtet. Der Unglücksort sei allerdings noch schwer zugänglich.

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