All die Waffen und die Messer!

Alice Guy-Blaché ist die erste Frau, die einen Film drehte: 1896. Eine unerzählte Geschichte, jetzt als Dokfilm

  • Nicolai Hagedorn
  • Lesedauer: 4 Min.

In diesem Jahr gewann mit Chloe Zhao (»Nomadland«) zum erst zweiten Mal in der 93-jährigen Geschichte der »Academy« eine Frau den Regie-Oscar, 2010 war Kathryn Bigelow mit »The Hurt Locker« die erste. Hollywood war und ist weitgehend ein Männerclub.

Dass das mehr mit patriarchalen Verhältnissen als mit Neigung und Talent zu tun hat, leuchtet ohne weitere Erklärung ein. Zumal seit den ersten bewegten Bildern, die die Brüder Lumière 1895 in Lyon zunächst einem kleinen privaten Publikum präsentierten, Frauen eine gewichtige Rolle in der Filmkunst gespielt haben. So war bei jener Privatvorführung auch eine junge Frau zugegen, die später als eine der ersten Regieführenden überhaupt einen fiktionalen Film drehen sollte: Alice Guy-Blaché.

So jedenfalls erzählt Pamela B. Green in ihrem Dokumentarfilm »Be Natural« die Geschichte ihrer Protagonistin, deren circa einminütiger Film »La Fée aux Choux« aus dem Jahr 1896 als einer der ersten, wenn nicht als der erste Spielfilm überhaupt gilt. Darin sieht man eine Fee, die aus den Blüten in einem Garten Säuglinge hervorzaubert und auf dem Boden ablegt.

Zwei Jahre vor der Entstehung von »La Fée aux Choux« hatte Guy-Blaché eine Stelle als Sekretärin in Léon Gaumonts Fotoapparateunternehmen in einem Vorort von Paris angetreten. Und nachdem Gaumont ins gerade entstehende Filmbusiness eingestiegen war, wurde sie zur ersten Regisseurin seiner Filme und später zur künstlerischen Leiterin seiner Filmstudios.

Green erzählt die Geschichte von Guy-Blaché chronologisch, in einer teils wilden, schnell geschnittenen Collage aus Interviewschnipseln und Sequenzen aus Gesprächen mit der erst 1968 gestorbenen Protagonistin selbst, mit Familienangehörigen, aber auch mit allerlei Experten und Prominenten. Außerdem präsentiert sie ihre Recherche, bei der sie auf der Suche nach historischen Dokumenten Nachkommen ihrer Heldin aufstöbert, Sammler und Archive besucht und sogar eine alte Videokassette »backen« lässt, um sie wieder funktionstüchtig zu machen.

Bei alldem verliert Green zwischenzeitlich etwas den Faden, ihre flirrende Erzählweise ist oft zu umständlich und der Versuch, aus den historischen Ereignissen ein Spektakel zu basteln, oftmals mehr ermüdend als aufregend. Insbesondere die redundanten, aber wenig erhellenden Einschätzungen aktueller Hollywood-Größen stören den Erzählfluss unnötig. Offenbar traute die Regisseurin ihrem Gegenstand nicht zu, einen ausreichend faszinierenden abendfüllenden Dokumentarfilm zu tragen, was ein wenig verwunderlich ist, denn Guy-Blachés Werk ist einzigartig und furios. Folgerichtig ist ein Highlight von »Be Natural« die leider viel zu kurze Sequenz, in der sich heutige Filmemacher etwas intensiver mit Guy-Blachés Filmen beschäftigen, während wir die Originalfilmausschnitte sehen.

Da schwärmt etwa Peter Farrelly: »Einer meiner Lieblingsfilme ist ›The Gamekeeper’s Son‹. All die Waffen und die Messer! Und das arme Kind! Der Vater stirbt, es ist herzzerreißend. Und sie erzählt die Geschichte in vier oder fünf Minuten, und zwar unglaublich spannend.« Und der Filmhistoriker Alan Williams ergänzt: »Sie drehte als erste Komödien. Die meisten ihrer Komödienfilme haben ein absolut perfektes Timing für Komik.«
Greens Film ist dann besonders interessant, wenn er nah an der Protagonistin bleibt, wenn sie etwa Filmhistoriker und Archivare die damaligen Umstände erläutern lässt oder sich der rasanten Entwicklung der frühen Filmstudios widmet und der beträchtlichen Rolle, die Guy-Blaché dabei spielte, insbesondere hinsichtlich der berühmten Solax-Studios. Dann funktioniert auch die aufwendige Animationstechnik, Greens Gespür für schöne Bilder wird sichtbar, ebenso ihr Talent, präzise und anschaulich zu erzählen. Um Guy-Blachés Wirken und die damaligen Schwierigkeiten klarzumachen, rahmt Green ihr Biopic mit zahlreichen Informationen zum Stand der Technik und der Entwicklung der frühen Filmkunst, auch diese Rahmung ist gelungen.

So ist mit »Be Natural« eine Hommage an eine etwas in Vergessenheit geratene Kino-Pionierin entstanden – und auch wenn man dem Film eine etwas stringentere Form, eine größere Konzentration auf Guy-Blachés Werk und etwas weniger Zugeständnisse an Eingängigkeit und Unterhaltungsfaktor gewünscht hätte, ist er durchaus sehenswert und ein Pflichtprogramm für Cineasten.

»Be Natural. The Untold Story of Alice Guy-Blaché«. USA 2019, Regie und Buch: Pamela B. Green, 103 Min., seit dem 5. August im Kino.

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