Die sozial Gerechten

Wahlkreis 59: Niels-Olaf Lüders (Linke) auf einem Plakat mit Sahra Wagenknecht

Niels-Olaf Lüders (Linke) im Gespräch mit Dagmar Enkelmann
Niels-Olaf Lüders (Linke) im Gespräch mit Dagmar Enkelmann

Nach reichlich anderthalb Stunden Wahlkampf auf dem Markt von Bernau packen die Stadtverordnete Dagmar Enkelmann und Bundestagskandidat Niels-Olaf Lüders (beide Linke) am Dienstagnachmittag zusammen. Eine kurze Verschnaufpause gönnen sie sich, dann befragt Enkelmann den Kandidaten in der Rotunde bei ihrer Gesprächsreihe »Offene Worte«.

Den Zuhörern erzählen sie, dass der eine oder andere Bürger an den Infostand getreten sei und gesagt habe, Sahra Wagenknecht würde er ja wählen, wenn die auf dem Wahlzettel stünde. In Nordrhein-Westfalen ist das der Fall, anderswo nicht. Enkelmann muss den Leuten erklären: Wenn sie sich wünschen, dass die Politikerin wieder in den Bundestag einzieht, dann sollen sie auch in Brandenburg die Linke ankreuzen, damit die Partei sicher die Fünf-Prozent-Hürde überspringt. Im Moment liegt sie in den Umfragen bei etwa sechs Prozent.

Enkelmann findet, Lüders sollte sein Plakat, das ihn zusammen mit Sahra Wagenknecht zeigt, auch in Bernau aufhängen. Darauf sind die beiden bei einem Fototermin zu sehen, überschrieben ist es mit: »Die sozial Gerechten.« Damit spielt Lüders auf Wagenknechts viel diskutiertes Buch »Die Selbstgerechten« an. Er hat es gelesen und es habe ihm gefallen, sagt er. Nur die Stelle, wo die Autorin Bernd Riexinger den Parteivorsitzenden nennt, »dessen Name heute zu Recht vergessen ist«, die hätte sie besser weggelassen, findet Lüders. Er würde seine handgefertigten Plakate mit Wagenknecht gern auch in Bernau sehen, weil er glaubt, dass ihm das hilft.

Da sind einige Genossen vor Ort anderer Meinung. Unbestritten ist, dass Wagenknecht polarisiert und die einen Wähler anzieht, während sie andere abschreckt. Auseinander gehen die Auffassungen darüber, ob Die Linke mit oder ohne Wagenknecht-Plakaten unterm Strich mehr Stimmen einheimsen könnte. Soll Lüders die Plakate ruhig im Oderbruch aufhängen, sagt ein Genosse. In Bernau, im Berliner Umland, seien sie eher schädlich. Den Beweis dafür soll ein Zwischenstopp beim linksalternativen Jugendclub »Dosto« liefern. Wie würden die Plakate hier ankommen? Ein junger Mann antwortet trocken: »Wahlplakate mit Wagenknecht reiße ich eigentlich prinzipiell runter.«

Diese Momentaufnahme darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Linken gerade Burgfrieden herrscht. Kurz vor der Bundestagswahl am 26. September sehen viele ein, dass sie jetzt nur zusammen Erfolg haben können. Darum stellen sie das Verbindende in den Vordergrund und nicht das Trennende.

Lüders bietet Anknüpfungspunkte für beide Seiten, obwohl er sich zum »Team Wagenknecht« zählt. Denn er arbeitete zeitweise einen Tag pro Woche für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Weil er sich die Schicksale der Geflüchteten so verständnisvoll anhörte, baten ihn die Dolmetscher, die Seiten zu wechseln. Heute betreut er als Asylrechtsanwalt beispielsweise Afghanen, Iraner und Kameruner und ist erstmals in seinem Leben glücklich mit seiner Berufswahl: »Ich fühle mich an der richtigen Stelle, weil ich Leuten helfen kann.«

Wenn er als Abgeordneter drei Gesetze ändern dürfte, dann würde er »Aktiengesellschaften abschaffen, weil man damit viele Probleme auf einen Schlag lösen kann«, für die Rekommunalisierung von Kliniken sorgen – und für ein humanes Asylrecht, erklärt Lüders. »Jetzt, beim Vormarsch der Taliban, noch Menschen nach Afghanistan abzuschieben, ist ein Unding.« Lüders schüttelt den Kopf. Er muss an einen Mandanten denken, dessen Abschiebung nach Afghanistan er leider nicht verhindern konnte. Wie es dem ergeht? Ob er überlebt?

54 Jahre alt ist Lüders, mit 50 ist er in die Linke eingetreten und hat sich in der Arbeitsgemeinschaft Flucht und Migration engagiert. Früher als Student an der Humboldt-Universität war er SED-Mitglied, ist aber in der Wendephase enttäuscht ausgetreten.
Seine zweite Frau ist Kurdin. Im Leben mit ihr gäbe es manchmal herkunftsbedingte Irritationen, aber er empfände die interkulturelle Beziehung als sehr große Bereicherung, sagt der Jurist. Das Paar hat einen Sohn, um den muss sich Lüders neben Kanzlei und Wahlkampf auch kümmern. So besorgt er in Bernau zwischendurch schnell Windeln, weil ihn ein Hilferuf seiner Frau erreichte, es seien nur noch fünf Stück im Hause.

Keine Zeit ist im Moment für die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen. Der Großvater von Lüders hatte als Kommunist in den Jahren 1939 bis 1945 in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen gesessen. Lüders hat versprochen, sich als Enkel zu engagieren, da mittlerweile fast alle Zeitzeugen gestorben sind. In diesem Jahr komme er erst nach dem 26. September wieder dazu, sagt er.
Einen aussichtsreichen Listenplatz hat Lüders nicht erhalten. Wie groß ist seine Chance, den Wahlkreis 59 zu holen, der aus Märkisch-Oderland und einem Teil des Barnim mit der Stadt Bernau besteht? »Es ist nicht unmöglich«, sagt Dagmar Enkelmann. »Die Linke hat ihn schon einmal gewonnen.«

Enkelmann selbst siegte hier im Jahr 2009. Doch 2013 verlor sie den Wahlkreis an Hans-Georg von der Marwitz (CDU). An ihm scheiterte 2017 auch die Rechtsanwältin Kerstin Kühn, die am 1. Januar 2021 aus der Linken austrat – weil sie sich dort nach 37 Jahren Parteimitgliedschaft, wie sie sagt, als Befürworterin von Sahra Wagenknecht nicht mehr gut aufgehoben fühlte.

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