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Sex im hier und jetzt
Täglich schießen 60.000 Gedanken durch unseren Kopf. Achtsamkeit zu trainieren, hilft im Moment zu sein - und kann sogar den Sex verbessern.
Täglich schießen tausende Gedanken durch unseren Kopf. Wir denken an Steuererklärung, Einkaufen oder über Arbeit nach, aber leben selten im Moment. Und genau das ist im Grunde unser Problem. Wir sind immer genau da, wo wir nicht sind.
Achtsamkeit heißt lediglich im Moment sein, sich der Dinge gewahr sein, die jetzt gerade sind. Umso lustiger, dass es mittlerweile abfällig »Achtsamkeitsblase« genannt wird, »Trend« oder »Hype«. Achtsamkeit ist ja kein TikTok-Tanz, keine Sonnenbrille oder eine Ice Bucket-Challenge. Das ist fast so, als würde man Gesundheit als Hype bezeichnen. »Wow, alle Leute wollen gesund sein, das ist jetzt voll in!«
Knick knack. »Lust und Laune« ist dein Beglückungsprogramm rund ums Thema Sex. Dabei sprechen wir alle zwei Wochen über consent, kinky Sex und Dinge, die nicht nur zwischen den Laken passieren. Wir nehmen unterschiedliche Perspektiven ein, tauchen in die Tiefe des Begehrens ein und berichten für euch darüber - links und einfach befriedigend. Alle Texte unter dasnd.de/lustundlaune
Achtsamkeit ist im Moment ein inflationär genutztes Wort. Ja, aber sind wir deswegen achtsamer im Alltag oder im Bett? Ich behaupte mal nein.
Achtsamer Sex ist keine Tätigkeit, wie Bondage oder eine Orgie. Achtsamen Sex praktizieren wir, wenn wir einfach das fühlen, was wir gerade tun. Wenn wir die Hand unseres Partner*innen auf unserer Haut spüren und nicht denken: »Oh man, meine Cellulite wird ja immer schlimmer!« oder: »Hoffentlich performe ich richtig!«
Achtsamer Sex heißt vor allem weglassen: Die ganzen Gedanken an das, was wir morgen noch tun müssen, die Angst, nicht schön oder gut genug zu sein, unsere ganzen Befürchtungen, Ängste und Sorgen. Wenn wir es schaffen würden, all das mal kurz nicht Überhand gewinnen zu lassen, sondern nur in diesem Moment wären, mit unserem*r Partner*in oder unseren Partner*innen - das wäre achtsamer Sex.
Wir könnten einfach fühlen, was es zu fühlen gibt. Haut an Haut, Hände, Lippen, Zungen, Atem. Wir könnten uns aufeinander einstellen und achtsam wahrnehmen, was dem anderen gerade gefällt und was nicht. Wir könnten uns dabei in die Augen schauen und ganz beim anderen sein und nicht bei unserer To-do-Liste. Einfach gucken, was kommt, wie es sich anfühlt, was gut ist und was nicht. Anfassen, streicheln, lecken, riechen, schmecken, den Partner*innen mit allen Sinnen wahrnehmen. Wie fühlen sich die Haare auf seinem Bauch an? Wie klingt sie beim Sex? Wie riecht er? Was passiert, wenn ich ihren Rücken berühre? Achtsamer Sex ist nicht mehr als das. Hier sein, jetzt sein, ganz und gar.
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Aber genau das ist natürlich nicht so einfach. Neurolog*innen sagen, dass wir durchschnittlich 60.000 Gedanken pro Tag haben. Die meisten von diesen elektrischen Impulsen - und mehr als das sind Gedanken ja zunächst einmal nicht - sind natürlich völlig überflüssig. Wir bewerten andere Menschen, wir denken an Omas Geburtstag in drei Wochen, überlegen, was wohl als Nächstes in unserer Lieblingsserie passiert oder hegen Groll. Wir rufen schlechte Erinnerungen wach oder machen uns Sorgen über die Dinge, die noch nicht passiert sind und wahrscheinlich auch nie passieren werden.
Möglich macht das unser gut ausgebildeter Neocortex, der Teil in unserer Großhirnrinde, der für all diese komplexen Gedankengänge zuständig ist. Der Neocortex ist bei uns Menschen dreimal so groß, wie bei unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen. Er befähigt uns dazu, zum Beispiel Schach zu spielen, weil wir Zukunft herstellen können: »Welchen Zug wird mein Gegner*innen wohl als nächstes machen?« Wir können damit also eine Realität herstellen, die es - noch - nicht gibt. Wir können uns Dinge vorstellen und antizipieren. Das ist natürlich wahnsinnig nützlich beim Überleben unserer Spezies, aber manchmal eben auch hinderlich. Zum Beispiel, wenn wir achtsamen Sex haben wollen.
»Ob sie das wohl so mag?«
»Hoffentlich findet er mich nicht zu langweilig!«
»Meine Haut am Bauch ist schlaff, das sieht nicht schön aus!«
Achtsamkeit praktizieren als Lifestyle
Im Buddhismus nennt man dieses ewige neuronale Dauerfeuer in unserem Kopf »Monkey Mind«, weil unsere Gedanken wie Affen von Baum zu Baum springen und partout keine Ruhe geben. Wer Achtsamkeit - ob beim Sex, beim Essen oder Autofahren - praktizieren und leben will, kommt also nicht umhin, seinen Geist zu schulen. Irgendwie müssen wir unserem Gehirn beibringen, diesen Lärm mal sein zu lassen.
Das geht am besten mit Meditation. Genau wie Sport ist Meditation allerdings etwas, von dem viele schon gehört haben und alle wissen, dass es irgendwie gut sein soll und trotzdem hat man nicht so richtig Bock es tatsächlich zu tun. Oder keine Zeit, was am Ende des Tages ja das Gleiche ist. Zum Serien Gucken haben wir ja auch Zeit.
Ich meditiere mittlerweile seit vier Jahren und kann aus eigener Erfahrung sagen: meditieren ändert alles! Ich bin entspannter, schlafe besser, habe besseren Sex, bin konzentrierter, aufmerksamer und nicht mehr Opfer meiner eigenen Gefühle. Und dafür muss man auch nicht Buddhist*in werden, nach Bali reisen, sich Räucherstäbchen kaufen oder Batik Hosen tragen. Alles was wir brauchen ist der Wille zur Stille. Ich meditiere nur etwa 20-30 Minuten am Tag, manchmal auch nur zehn. Ich höre entweder Meditationsmusik oder eine geleitete Meditation, in der mir jemand sagt, dass ich atmen soll, oder was auch immer man da eben so tut. Es geht lediglich darum, sein Gehirn zu trainieren, wie wir unsere Muskeln im Fitnessstudio trainieren.
Viele Menschen haben allerdings auch Angst davor, denn Meditieren ist die ersten Monate harter Tobak. Einige werden unruhig, weil es so ungewohnt ist, mit den eigenen Gedanken allein zu sein, vielleicht weinen wir, schlafen ein, denken an Kochrezepte oder eine blöde Kindheitserinnerung. Meditation ist nicht etwas, dass wir einfach können. Aber wenn wir verstehen, dass es eine Praktik ist, für die wir Übung brauchen, geben wir vielleicht auch nicht so schnell auf.
Meditation ist das mächtigste Tool im Achtsamkeitsbaukasten. Es gibt rund 300 Arten zu meditieren: Im Sitzen, im Stehen, im Gehen, im Liegen. Es gibt Tanz-Meditationen, Hüpf-Meditationen und man kann sogar meditativ eine Rosine essen. Kalligrafie wird zum Beispiel auch als Meditation angesehen, weil man sehr konzentriert seine Buchstaben malt und dabei meist an nichts anderes denkt. Alles, was unseren verrückten Neocortex zum Schweigen bringt, kann auch eine Meditation sein. Hauptsache es herrscht Stille im Kopf.
Dieses Training befähigt uns dazu auch bei Dingen, die wir jeden Tag tun, achtsamer zu sein, mehr im jetzt und hier zu leben. »Die Menschen wären glücklicher, wenn sie mal ihr Essen genießen würden« hat mir der Ernährungspsychologe Christoph Klotter mal in einem Interview gesagt. Exakt das gilt auch für unseren Sex. Es klingt so banal und manchmal ist es das auch. Wir müssen nicht mehr tun, um besseren Sex zu haben. Wir müssen einfach weniger denken.
Die Autorin des Textes, Diane Hielscher, moderiert den Podcast »Achtsam« von Deutschlandfunk Nova und spricht auch in ihrem Podcast »Kopf über Herz« bei Audible darüber, wie wir glücklicher lieben können. Im Frühjahr 2022 erscheint zu diesen Themen ihr Buch.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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