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  • Geschlechtergerechtigkeit

Der ewige Makel Frau

Karen Köhlers Debütroman »Miroloi« ist ebenso universell wie fiktiv

  • Gisela Zimmer
  • Lesedauer: 6 Min.

Ich hatte »Miroloi« verpasst. Dabei hatte der Carl-Hanser-Verlag den Roman der in Hamburg lebenden Autorin ganz vorn auf seine belletristische Liste gestellt. Im Spätsommer 2019 kam er in die Buchläden. Aber zu dem Zeitpunkt war ich weit weg. Wandern im Kaukasus. Welch ein Glück, jedenfalls im Nachhinein betrachtet. Denn vielleicht hätte ich mich beirren lassen von der Literaturkritik. Die ließ kaum ein gutes Haar an dem Buch. Vom Hanser-Verlag angekündigt als »das größte Ereignis des literarischen Herbstes«, sei der Roman »völlig misslungen«. Zudem »naiv«. Oder die Autorin täte dem Feminismus damit »keinen Gefallen«. Diese Verrisse habe ich erst viel später zur Kenntnis genommen. Weit nachdem ich das Buch fast ohne Pause durchgelesen hatte.

Was erzählt »Miroloi«? Es geht um ein Findelkind. Um ein Mädchen. Abgelegt auf den Stufen eines Bethauses. Gefunden wird das Baby, notdürftig eingehüllt in einem Karton, vom Betvater. Man könnte auch Pfarrer denken oder Priester oder Imam. Und das Bethaus ist vielleicht eine Kirche, eine Moschee. Man weiß nicht genau, wo und wann sich das Werden und Wachsen des namenlosen Kindes abspielt. Der Ort ist eine Insel, darauf ein Dorf, in dem Frauen, Männer und Kinder völlig abgeschottet leben. Das Moderne bleibt draußen. Es gibt nicht einmal Strom. Nur zwei Mal im Jahr kommt ein Schiff, bringt Waren für den Alltag, aber eben auch Wunderdinge, die auf dem Festland wohl gang und gäbe sind. Das Inselleben scheint aus der Zeit gefallen. Die Männer haben das Sagen, vor allem der Ältestenrat. Mädchen dürfen nicht in die Schule gehen, lernen weder lesen noch schreiben. Sie sollen für Haus, Hof und Familie da sein, werden obendrein zwangsverheiratet. Hinter den Türen wird geprügelt und sexueller Missbrauch still geduldet. Mitten im Dorf steht ein Pranger, ein Pfahl für öffentliche Strafen. Die Steinigung gehört dazu. Es gibt keine Gewaltenteilung, es gibt keine Gleichberechtigung. Dabei heißt das Dorf doch »Schönes Dorf«.

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In dieser Welt lebt das Mädchen ohne Namen. Nicht einmal den bekam es, weil weder Mutter noch Vater bekannt waren. Damit wurde ihr von Beginn an das Selbstverständliche verwehrt: eine eigene Identität. Eine Eselshure sei sie, schreien ihr die Kinder in den engen Gassen hinterher. Eine Hexe, wispern die alten Frauen. Die inzwischen 16-Jährige gehört nicht zur Gemeinschaft, sie wird geächtet, gehänselt, ist eine Ausgestoßene. Nur einer im Dorf hält die schützende Hand über sie – der Betvater. Er ist es auch, der ihr heimlich das Alphabet beibringt. Und Mariah, die Älteste im Dorf, eine Art weise Frau, ermutigt das Mädchen. Von Strophe zu Strophe – so nennt Karen Köhler ihre Kapitel – ahnt man die unvermeidlichen Konflikte. Denn wer lesen kann, versteht eines Tages auch die Lügen. Spürt, dass die Männer aus dem Ältestenrat die Heiligen Gesetze anders als geschrieben auslegen. Unrecht wird so zu Recht.

Ungleichheit zur zementierten Normalität. Dabei hatte der Betvater sie noch gewarnt, als er ihr die Buchstaben und Silben vermittelte. »Wenn du sie einmal kennengelernt hast, gibt es kein Zurück mehr, du kannst dann nicht mehr nicht lesen, nicht mehr nicht wissen. Verstehst du?« Das Mädchen antwortet da noch mit einem ehrlichen »Nein«. Nach und nach beginnt sie jedoch zu verstehen, stellt die Inselordnung infrage, zweifelt, beginnt zu rebellieren, wenn anfänglich auch noch heimlich. Sie wagt eine verbotene Liebe, und sie wird gehen, die Insel verlassen. Ob sie neue Ufer erreicht, bleibt offen.
Die Geschichte ist so fiktiv wie universell. Beim Lesen musste ich an meine Mutter denken. Sie wurde schwanger mit 16. Es war eine Vergewaltigung. Mit 17 war sie Mutter und stand am Pranger, wurde beschimpft als gefallenes Mädchen, sie hatte Schande über die Familie gebracht. Und das Kind? Man durfte es offen oder hinter der vorgehaltenen Hand als Bastard bezeichnen. Dieses Trauma wurde sie nie los, bis an ihr Lebensende nicht. Passiert ist ihr das in den 1940er Jahren. Diese gesellschaftliche Verachtung für ledige Mütter hielt sich bis weit in die 1960er Jahre, die gesetzliche Gleichstellung ihrer Kinder dauerte noch länger. Es werden sich also noch viele Frauen mitten unter uns an ihr eigenes »Miroloi« erinnern. Und ich dachte an die Mädchen und Frauen in Afghanistan. Führte die westliche Militärallianz nicht unter anderem Krieg, weil sie gleichberechtigt Zugang zu Bildung erhalten sollten? Kinderhochzeiten abgeschafft werden sollten? Jetzt, 20 Jahre später, ziehen die Militärs ab. Holterdipolter. Die Mädchen und Frauen bleiben in ihrem Elend zurück. Und als Karen Köhler ihren Roman schrieb, konnte sie nicht ahnen, dass der türkische Ministerpräsident im Jahr 2021 den Istanbul-Vertrag aufkündigen würde. Der sei Mist, sagt Erdogan. Frauen gehören ins Haus, haben für die Familie zu sorgen, und sonst gar nichts. »Miroloi« ist nicht weg.

Das Wort kommt aus dem Griechischen. Bedeutet übersetzt »Rede über das Schicksal«. Karen Köhler macht das, konsequent aus der Perspektive des Mädchens, der heranwachsenden jungen Frau. Das mag für Kritiker sprachlich »naiv« klingen. Was aber weiß und denkt jemand mit 16 Jahren? Zumal das Wissen-Sollen und Denken-Können in diesem martialischen Inselumfeld für Frauen unerwünscht ist. »Miroloi«, so heißt aber auch das Totenlied, gesungen von Frauen am Grab eines Verstorbenen. In 128 Strophen wird damit noch einmal das Leben aufgeblättert. Doch was erzählt so ein Lebens-Lied von den Frauen? Von dem Teil der Menschheit, der in vielen Teilen der Welt den Makel, als Mädchen auf die Welt gekommen zu sein, ein Leben lang nicht verliert?

Der Erzählweise von Karen Köhler ist anzumerken, dass sie auch auf der Bühne zu Hause ist. Sie schreibt Theaterstücke und Drehbücher. Sie schafft wundersame Wortbilder, lässt ganz viel Raum für eigene Kopf-Bilder. Ein Zitat von Hannah Arendt steht zu Beginn: »Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen.« Am Ende lässt Karen Köhler ihre zwar geschundene, aber doch so wache und wagemutige junge Buchheldin sagen: »Ich atme, ich schwimme, ich singe … gegen die Angst vor dem Hintermir und den Tausendaugen, singe mir mein Leben vor, singe uns dein Totenlied, dein Miroloi, dein Lied vom wunderschönen Leben.«

Der Carl-Hanser-Verlag brachte Miroloi im Spätsommer 2019 heraus. Jetzt liegt es wieder neu in den Buchläden. Als Taschenbuchausgabe von dtv.

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