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Die tägliche Alpenüberquerung im Muldental

Mit einer spektakulären Wanderung hat Tobias Burdukat für ein alternatives Jugendprojekt im ländlichen Sachsen geworben

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 9 Min.

Das »Dorf der Jugend« ist einigermaßen verwaist. Auf dem Asphalt der ehemaligen Skaterbahn steht verloren ein blauer Polstersessel; die Rampen, auf denen junge Skateboardfahrer einst artistische Wendungen vollführten, sind beiseite geräumt. Im Veranstaltungssaal ist es dunkel; auch im Café und in der Fahrradwerkstatt ist an diesem Vormittag kein Betrieb. Trotzdem läuft immer mal wieder jemand über den Hof der ehemaligen Spitzenfabrik am Ufer der Mulde in Grimma, und stets gibt es einen freundlichen Gruß für Tobias Burdukat, den sie hier alle nur »Pudding« nennen und der gerade sechs Wochen weg war. Burdukat, so scheint es, empfindet die Grüße und die Begegnungen als wohltuend. Das Dorf der Jugend mag derzeit nicht von Menschen wimmeln. Einsam aber ist es hier nie.

In den sechs Wochen seiner Abwesenheit hat Burdukat viel Einsamkeit erfahren, und er mochte sie nicht. Es war die Einsamkeit eines Langstreckenläufers. Er ist exakt 691 Kilometer über Alpen und Dolomiten gewandert: in steilen Wänden, auf schmalen Stegen, über halsbrecherische Pfade, vereiste Hänge und rutschige Weiden. Er hat auf der Tour vom Oberstorf nach Muggia an der italienischen Adriaküste Sturm und Schneefall ertragen, die Blasen an den Füßen und Schmerzen in den Sehnen hingenommen, die auch Tage nach der Rückkehr nicht ganz abgeklungen sind. Er hat Gewitter und Dauerregen überstanden, der sich fünf Tage lang über ihn ergoss und die Motivation auf eine harte Probe stellte.

All das jedoch war auszuhalten. »Was mich wirklich fertiggemacht hat«, sagt Burdukat, »war die Einsamkeit.« Stunden, Tage und Wochen kraxelte er ohne Kletter- und Gesprächspartner die Berge hinauf und hinunter. Mancher sucht bewusst eine solche Erfahrung und pilgert allein, um zu sich zu kommen. Er aber sei »so weit klar« mit sich selbst, sagt der Enddreißiger: »Ich muss mich nicht selbst finden.« Er wollte etwas anderes finden: Spender. Die Wanderung war Teil eines Projektes, das auf der Plattform Startnext und in den sozialen Medien unter dem Hashtag #hikefor lief und mit dem die Finanzierung des »Dorfs der Jugend« auf eine solide Basis gestellt werden sollte. 70 000 Euro sollten eingespielt werden, die Stellen für zwei Sozialarbeiter geschaffen sowie die Planungen für ein großes Bauvorhaben finanziert werden. Weil Menschen aber erst für eine gute Sache spenden können, wenn sie von ihr wissen, brauchte es eine spektakuläre Aktion, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. In diesem Fall war das: eine Hardcore-Wanderung über Europas höchstes Gebirge.

Ein Mittel gegen die Abwanderung

Tobias Burdukat hat sich schon zuvor abgerackert für das Dorf der Jugend, das seine Idee ist. 2012 begann er in seiner Heimatstadt Grimma, als Sozialarbeiter mit Jugendlichen zu arbeiten. 2014 stieß er auf die Alte Spitzenfabrik: ein historisches Fabrikgebäude, das seit gut einem Vierteljahrhundert leer gestanden hatte, entsprechend verfallen war, aber Raum und Möglichkeiten bot, um das von ihm entwickelte Konzept einer »emanzipatorischen Jugendarbeit« praktisch anzuwenden. Junge Menschen sollen Raum erhalten, um Ideen und Projekte zu entwickeln; sie sollen sich selbst um deren praktische Umsetzung kümmern: Geld, Genehmigungen, Unterstützung. Sie sollen Regeln für das gemeinsame Engagement aufstellen, die nötigen Kompromisse aushandeln, kurz gesagt: ihr »Dorf« am Laufen halten.

Solche Angebote sind wichtig für die Jugendlichen, die eigenständiges Handeln lernen, sich ernst genommen fühlen und im alltäglichen Umgang auch erleben, wie Demokratie funktioniert. Sie sind aber auch wichtig für die sächsische Provinz: für Regionen, aus denen viele junge Leute abwandern und in denen viele Erwachsene lieber murren und meckern, statt sich zu engagieren. »Die Zivilgesellschaft ist hier vielerorts ziemlich am Arsch«, sagt Burdukat, der freilich nicht gewillt ist, deren Erosion unwidersprochen hinzunehmen oder sich in die anhaltende Abwanderung zu fügen. Es reiche nicht aus, wenn es nur noch in den Großstädten Menschen gebe, die sich einmischen und die Gesellschaft verändern wollen. Und Städte wie Grimma, fügt er an, hätten keine Zukunft, wenn alle jungen Menschen in die Ferne zögen und von dort nicht mehr zurückkehrten. Das Dorf der Jugend, so seine Idee, soll das Gefühl vermitteln, dass auch in der Provinz etwas geht – ein Gefühl, das junge Leute zum Bleiben oder zum Wiederkommen antreibt.

Leicht hat es ein solches Projekt in einer Kleinstadt wie Grimma nicht. Anwohner störten sich am Lärm der Skaterbahn und setzten ein Sonntagsfahrverbot durch. Auch das kreative Durcheinander auf dem Gelände, das wenig mit dem Ideal getrimmter und unkrautfreier Vorgärten zu tun hat, ist geeignet, Anstoß zu erregen. »Erwachsene sind oft der Ansicht, dass Jugendliche nach ihren Regeln zu funktionieren hätten«, sagt Burdukat: »Alles soll ordentlich aussehen und in geregelten Bahnen verlaufen.« Auch die Kommunalpolitiker messen Sinn und Erfolg einer Jugendeinrichtung oft an diesen Kriterien. Toleranter seien sie, wie Burdukat durch eine wissenschaftliche Arbeit belegt hat, wenn sie als Jugendliche ebenfalls in selbst organisierten Projekten aktiv waren – was im Osten aber eher selten der Fall ist.

Jenseits von Rathaus und Ratssaal finden Einrichtungen wie das Dorf der Jugend mehr Anerkennung. 2019 wurde es mit dem Sächsischen Förderpreis für Demokratie ausgezeichnet. 2016 hatte es bereits die »Goldene Henne« erhalten, einen unter anderem vom Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) vergebenen Preis, der dem Projekt aus Grimma in der Kategorie »Charity« (Wohltätigkeit) verliehen wurde und mit 25 000 Euro dotiert war. Noch einmal 5000 Euro packte der Sänger Marius Müller-Westernhagen drauf, der die Laudatio hielt, aber Burdukat bei der Zeremonie auch eine für diesen sehr verstörende Frage stellte – nämlich danach, was dieser als Sozialarbeiter denn eigentlich mache?!
Die Frage begegnet Burdukat auch an anderer Stelle immer wieder, und sie ist Anlass dafür, dass er zu Werbezwecken für sein Projekt ausgerechnet ein Hochgebirge bezwingen wollte. Das erscheine ihm als die perfekte Metapher für seine tägliche Arbeit mit jungen Menschen, sagt er: »Man weiß nie, wo einen der Weg an diesem Tag hinführt. Man muss ständig auf unvorhergesehene Situationen reagieren, die man nicht im Voraus bedenken kann. Man muss das Wetter nehmen, wie es eben gerade ist«, sagt Burdukat. All das trifft auch auf seine Tätigkeit als Sozialarbeiter zu. Gewissermaßen finden also auch Tag für Tag im Muldental viele kleine Alpenüberquerungen statt.

Dabei das Ziel zu erreichen ist indes kaum weniger schwierig, als den Großglockner oder die Drei Zinnen im Regen zu bezwingen. Ein kritischer Punkt: das Geld. In sieben Jahren hat das Dorf der Jugend nie feste Förderung von der Stadt Grimma erhalten, sagt Burdukat. Das Jugendamt bezahle zwar Sozialarbeiter, aber, anders als bei anderen Jugendeinrichtungen, keine Betriebskosten. Andere Förderprogramme von Land und Bund haben der Trägerverein und die später gegründete Betreiberfirma Between the Lines GmbH kaum je nie in Anspruch genommen. Zum einen sei für ein ehrenamtlich arbeitendes Projekt der Aufwand viel zu hoch, um Gelder zu beantragen und dann alle nasenlang Sachstandsberichte zu verfassen oder Nachweise über die Verwendung zu erstellen. Zum anderen besteht die Sorge, dass der stetige politische Rechtstrend im ländlichen Sachsen zunehmend zu Kompromissen oder Selbstverleugnung nötigt. In Döbeln etwa musste ein alternatives Kulturprojekt um Fördergeld bangen, weil es von CDU und AfD in die Nähe des Linksextremismus gerückt wurde. Formal hat die AfD in der Region bisher keine Möglichkeit zur Mitbestimmung. Faktisch aber, sagt Burdukat, setzten manche Ämter deren Forderungen schon jetzt »in vorauseilendem Gehorsam« um.

Mit dem #hikefor-Projekt wollte sich das Dorf der Jugend ein wenig aus derlei Zwängen befreien und »unabhängig von staatlicher Förderung« werden, hieß es im Aufruf. Ein guter Schritt dahin ist gelungen. Auf der Plattform stellten 689 Spender 65 499 Euro zur Verfügung. Burdukat hätte sich zwar mehr Unterstützung von Firmen aus der Outdoorbranche erhofft, die in ihrer Werbung ökologische Nachhaltigkeit predigen, aber trotz Einladung nicht bereit waren, sein auf soziale Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit ausgerichtetes Projekt in Grimma zu fördern: »Das hat mich ein wenig enttäuscht.« Das selbst gesteckte Ziel, 70 000 Euro einzuspielen, wurde dank weiterer Spenden auf das Konto des Dorfes der Jugend aber erreicht. Auch das »nd« hat sich beteiligt.

Mit dem Rückenwind der erfolgreichen Kampagne und der gelungenen Alpenüberquerung fällt es nun leichter, die Mühen der Ebene anzugehen, die zum Beispiel bürokratischer Natur sind. Ein Teil des Geldes soll in ein Konzept fließen, um die ehemalige Maschinenhalle der Fabrik in eine Skaterhalle umzubauen. Sie soll die Freiluftbahn ersetzen, von deren zwangsweiser Räumung Burdukat während der Wanderung erfuhr. Diese war der traurige Schlusspunkt einer Posse, in deren Verlauf das Rathaus erst eine stadteigene Fläche neben der Fabrik zur Verfügung gestellt und asphaltieren lassen hatte, nur um dann festzustellen, dass eine erforderliche Genehmigung fehlte, was zum Rückzieher führte. Anfang Juli wurden die Rampen abgebaut. Es bleibe, hieß es damals auf der Homepage, »nichts als eine leere Asphaltfläche und die traurige Erkenntnis, dass dem nicht entgegen gewirkt werden konnte«.

Corona hat Jugendarbeit ausgebremst

Dabei geht es um viel mehr als die Möglichkeit, auf Rampen und in Halfpipes ein paar Tricks auf dem Rollbrett vollführen zu können. Die Skaterbahn war ein Magnet für das Dorf der Jugend. Sie zog viele junge Leute an – die wiederum andere dazu brachten, in die Spitzenfabrik zu kommen: Jugendliche, sagt Burdukat, »wollen sein, wo andere Jugendliche sind«. Nun jedoch mussten sich die Skater einen anderen Platz in der Stadt suchen – einen, an dem sich vermutlich andere Anwohner von »Lärm« und anderen Begleiterscheinungen des sportlichen Zeitvertreibs gestört fühlen, an dem sie aber für Sozialarbeiter zunächst einmal schwer erreichbar sind. Als Folge bleiben auch viele andere Jugendliche aus dem Dorf der Jugend weg. Dabei war die Lage durch Corona ohnehin schwierig genug. Viele Angebote konnten nicht stattfinden; das Café und die Fahrradwerkstatt waren geschlossen, Musikfestivals fielen aus. Virtuelle Angebote konnten leibhaftige Kontakte kaum ersetzen. Für die soziale Arbeit mit Jugendlichen ist das fatal. Sie sei sehr kurzlebig, sagt Burdukat: »In einem halben Jahr bricht da viel zusammen« – was jetzt dazu führt, dass das Dorf der Jugend auch an einem Ferientag einigermaßen verwaist wirkt.

Burdukat und seine Mitstreitenden lassen sich davon nicht entmutigen. Sie planen neue Projekte, so wie sie die Route für seine Überquerung der Alpen geplant haben. Sie nehmen die unvorhergesehenen Situationen und das widrige Wetter in Kauf und machen einfach weiter: bei der alltäglichen Alpenüberquerung im Dorf der Jugend im Muldental.

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