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Paralympische Signale

Die vielen chinesischen Siege sollen politisch nach innen und außen wirken

  • Ronny Blaschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Andrew Parsons bemüht sich offenbar, keine Bewertung vorzunehmen. »Es gibt Dinge, die nur in China möglich sind«, sagt der Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees IPC. Und man fragt sich, ob er das gut findet oder nicht. »China wird im paralympischen Sport weiter massiv investieren.« Bei den Paralympics in Tokio liegen die Chinesen auf Rang eins des Medaillenspiegels. Sie haben bis Donnerstagabend 77 Goldmedaillen gewonnen, 43 mehr als der Zweitplatzierte Großbritannien.

Der Aufstieg basiert auf einem langfristigen Plan. Bei den Paralympics 2000 in Sydney belegten die Chinesen Rang sechs des Medaillenspiegels. Doch dann wurden 2001 die Olympischen und damit auch die Paralympischen Spiele für 2008 nach Peking vergeben. In einem Vorort der Hauptstadt wurde das weltweit größte paralympische Sportzentrum gebaut. Nach Angaben der Kommunistischen Partei flossen jährlich 100 Millionen Yuan (13 Millionen Euro) aus Lotteriemitteln in den Behindertensport. Seit der Jahrtausendwende wurden in China Zehntausende Menschen mit Behinderung für den Leistungssport gesichtet. Chi Jian, Präsident der Sportuniversität in Peking, beschreibt in einem Aufsatz, wie weit das Netzwerk reicht: Krankenhäuser, Schulen und Wohltätigkeitsorganisationen melden behinderte Jugendliche mit potenziellen Talenten an lokale Sportverbände.

In China leben schätzungsweise 100 Millionen Menschen mit einer Behinderung. »Nur ungefähr jede zehnte gesichtete Person wird für den Sport rekrutiert«, sagt Karl Quade, der gerade in Tokio zum 13. Mal ein deutsches Paralympicsteam als Chef de Mission anführt. »Das ist ein brutaler Selektionsprozess, den sich andere Länder nicht leisten können und wollen.« Und so dominieren die Chinesen seit den Paralympics 2004 in Athen das Medaillenranking. Politiker und Wissenschaftler in China werten diese Erfolge als Sinnbild für den ökonomischen Aufstieg der Volksrepublik. Und der historische Medaillenspiegel scheint ihnen recht zu geben: Von den zehn erfolgreichsten Nationen kommen acht aus Europa und Nordamerika. China liegt mit zehn Teilnahmen auf Rang vier, als einziges Land der Top Ten, das sich kulturell nicht mit dem »Westen« identifiziert.

Das chinesische Regime kann seine politischen Rivalen bei den Paralympics so weit hinter sich lassen wie bei keinem anderen großen Sportereignis. Doch für die Kommunistische Partei soll der Behindertensport auch nach innen wirken: Paralympische Medaillen sollen als Belege für die Fürsorge des Sozialstaates und für die wachsende Teilhabe von Menschen mit Behinderung stehen. Regierungsnahe Beobachter berufen sich auf Deng Pufang. Der erste Sohn des Reformers und ehemaligen Staatschefs Deng Xiaoping setzte sich für eine bessere Versorgung ein, gründete 1988 den Chinesischen Behindertenverband - und machte sich für Sport stark.

Was in der Geschichtsschreibung kaum erwähnt wird: Während der Kulturrevolution war Deng Pufang gefoltert und 1968 zu einem Sprung aus dem dritten Stock genötigt worden. Seitdem ist er querschnittsgelähmt und auf einen Rollstuhl angewiesen. Unter Diktator Mao Zedong sollten auch Paraden von trainierten Körpern den Aufbau der kommunistischen Nation symbolisieren - für behinderte Menschen war lange kein Platz.

Das änderte sich um die Jahrtausendwende. »Das Niveau der Sportwissenschaften in China wurde im paralympischen Bereich immer besser«, erzählt der promovierte Sportwissenschaftler Karl Quade. Sportschulen in China verpflichteten Trainer und Experten für Prothetik aus dem Westen. Doch einige Experten, wie Stephen Hallett aus Großbritannien, legten dar, dass diese Offensive nicht repräsentativ sei für Menschen mit Behinderung in China. Hallett lebte mehrere Jahre mit einer Sehbehinderung in China. In Beiträgen dokumentierte er für die BBC, wie behinderte Menschen in Bildung und Arbeitsmarkt benachteiligt seien. Eine seiner Thesen: Mit der Vermarktung paralympischer Erfolge wolle das Regime Menschen mit Behinderung sogar indirekt unter Druck setzen - damit diese in der Gesellschaft mehr zur Produktivität beitrügen.

Für diesen Anspruch schafft der Staat eine bessere Infrastruktur, zumindest in Ballungsgebieten wie Schanghai oder Peking, wo 2022 die Olympischen und Paralympischen Winterspiele stattfinden. »Viele neue Hotels, Transportmittel und Sportstätten sind barrierefrei«, sagt IPC-Präsident Parsons.

Hunderttausende Kinder kommen jährlich in China mit einer Behinderung zur Welt. Und die Zahl könnte weiter wachsen - wegen Umweltschäden und früherer Abtreibungen der Mütter durch die Ein-Kind-Politik. Sport könnte in der Gesundheitsvorsorge und Rehabilitation von behinderten Menschen eine wichtige Rolle spielen. Ob die Paralympics 2022 dafür eine Öffentlichkeit schaffen, bleibt abzuwarten. Erst seit 2002 nimmt China an den Winterspielen teil. Seitdem hat es dort erst zu einer Goldmedaille gereicht, 2018 im Rollstuhlcurling. Es ist wahrscheinlich, dass diese Zurückhaltung bei den kommenden Heimspielen in Peking ein Ende finden wird.

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