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Hanseatischer Rechtspopulismus

Vor 20 Jahren gingen CDU und FDP eine Koalition mit der Schill-Partei ein. Deren Erben prägen nun die AfD

  • Gaston Kirsche, Hamburg
  • Lesedauer: 5 Min.

Als Amtsrichter war Ronald Schill in den 90er Jahren gefürchtet. Der spätere Innensenator hatte zahlreiche harte Urteile gefällt und war zum Liebling des Springerkonzerns aufgestiegen. Die Hamburg-Ausgabe der »Bild« feierte ihn jahrelang als »Richter Gnadenlos«. »Die Springerpresse hat ihn regelrecht hochgeschrieben«, sagte Christiane Schneider nun gegenüber »nd«. Sie war von 2002 bis 2006 Sprecherin der PDS Hamburg und ab 2008 zwölf Jahre Linke-Abgeordnete in der Hamburgischen Bürgerschaft.

Schill zog über seines Erachtens nach zu milde urteilende, progressive Jugendrichter her. Er suggerierte, Hamburg sei die unsicherste Stadt Deutschlands und der bis 2001 regierende rot-grüne Senat mit dem linken Sozialdemokraten Ortwin Runde als Bürgermeister gehe zu lasch gegen Kriminelle vor, insbesondere gegen straffällige Jugendliche.

»Die Stadt- und Sozialentwicklung hatte zu einer öffentlich sichtbaren Zunahme von Armut – Stichworte etwa Bettelei und Drogenproblematik – geführt, die den Nährboden für starke rechte und autoritäre Strömungen bildeten«, so Christiane Schneider. »Schill gelang es, mit der Fokussierung auf Kriminalität den verbreiteten Unmut sowohl in ärmeren wie auch in bürgerlichen Stadtteilen für autoritäre Konzepte zu mobilisieren.« Schneider wies darauf hin, dass bei den Bürgerschaftswahlen 1993 und 1997 DVU, Republikaner und NPD zusammen 7,6 beziehungsweise 7 Prozent erreicht hatten. Hinzu kamen 1,6 Prozent für die rechtspopulistische Kleinpartei Bund Freier Bürger. Dieses rechte Wählerpotenzial konnte Schill gewinnen. Es machte mehr als ein Drittel seines Erfolgs im September 2001 aus. Vormals CDU- und SPD-Wählende stellten, etwa zu gleichen Teilen, 44 Prozent der Schill-Wähler. Zudem konnte er zahlreiche Nichtwähler mobilisieren.

Die CDU, die in Hamburg alleine gegen die mit Behörden und Handels- und Hafenkapital eng verwobene SPD nicht ankam, baute Schill als Kritiker des Senates mit auf. Ortsverbände der Konservativen organisierten Vortragsabende mit ihm. Im Juli 2000 wurde dann Schills »Partei Rechtsstaatliche Offensive« (PRO) gegründet, die sich nach einem Rechtsstreit um die Abkürzung mit der Kleinstpartei »PRO D-Mark« nur noch »Schill-Partei« nannte. »Er hat die reaktionärsten, dumpfsten Volksmeinungen zu einem politischen Programm zusammengeführt«, erklärte Werner Pomrehn vom linken Radio Freies Sender Kombinat FSK rückblickend gegenüber »nd«. »In gewisser Weise war die Zeit reif für eine neue, rechte, aber nicht extrem rechte Partei mit dem Flair des Unverbrauchten, Neuen und nicht Etablierten«, resümierte Felix Krebs vom Hamburger Bündnis gegen Rechts im Gespräch mit dem »nd«.

Auch eine später vom Bundesgerichtshof aufgehobene Verurteilung wegen Rechtsbeugung schadete Schills Ruf nicht. In einem Prozess gegen Aktive aus der Roten Flora hatte Strafrichter Schill Ordnungshaft gegen drei Personen aus dem Umfeld des Autonomen Zentrums verhängt – und deren über den Anwalt Andreas Beuth dagegen eingereichte Beschwerde zwei Tage nicht an das zuständige Oberlandesgericht weitergeleitet. Schill beteuerte treuherzig, das sei keine Absicht gewesen. Und so hob der Bundesgerichtshof seine Verurteilung wegen Rechtsbeugung am 4. September 2001 auf. Drei Wochen später feierte die Schill-Partei nach der Bürgerschaftswahl, nachdem sie 19,4 Prozent geholt hatte.

Die CDU bildete mit der Schill-Partei und der FDP eine Koalition. »Das war nur möglich, weil die CDU und das konservative Establishment, auch in der Wirtschaft, einen Wechsel wollten«, so Felix Krebs. »Sie brauchten dafür aber einen neuen Koalitionspartner, weil die CDU alleine zu schwach war. Deshalb ließ man dem Hasardeur Schill weitgehend freie Hand, obwohl schon damals bekannt war, dass er mehr Maulheld denn versierter Jurist war.«

Die in Hamburg zu diesem Zeitpunkt seit 44 Jahren ununterbrochen regierende SPD musste dem neuen Bündnis Platz machen. »Die SPD hatte Monate vor den Wahlen in der Hoffnung, Schill das Wasser abzugraben, einen scharfen Rechtsruck eingeleitet, insbesondere auf dem Feld der Innenpolitik«, so Christiane Schneider. Der von Schill zum Symbol für zu viel Liberalität erklärte SPD-Innensenator Hartmuth Wrocklage wurde Ende Mai 2001 gegen Olaf Scholz ausgetauscht. Der heutige SPD-Spitzenmann ordnete im Juli an, dass mutmaßlichen Dealern auch zwangsweise Brechmittel verabreicht werden könnten, wenn sie aus Angst vor Strafe ihre Drogen herunterschlucken. Vom rot-grünen Hamburger Senat wurde dies bis dahin abgelehnt – wegen rechtlicher Zweifel und medizinischer Bedenken aus der Ärzteschaft gegen das Brechmittel »Ipecacuanha«.

Schill, der Scholz am 31. Oktober als Innensenator ablöste, setzte die Brechmittelverabreichung unter Zwang fort. Der 19-jährige Nigerianer Achidi John fiel am 8. Dezember 2001 ins Koma, nachdem ihm gewaltsam eine Magensonde mit dem Brechmittel in die Speiseröhre gepresst worden war, und starb. Andere Bundesländer setzten den Einsatz von Brechmitteln nach dem Tod Achidi Johns. Erst 2006 war Schluss. Da entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass der zwangsweise Einsatz von Brechmitteln eine Foltermethode und daher menschenrechtswidrig sei.

Der Senat setzte zudem auf Privatisierungen. »Betroffen waren etwa vormals kommunale Krankenhäuser«, so Frank Loeding, Verdi-Gewerkschafter und langjähriger Betriebsrat. »Hinzu kamen die Einstellung von sozialem Wohnungsbau, Sozialkürzungen, insbesondere die Ersetzung von Rechtsansprüchen durch Ehrenamtlichkeit und Mildtätigkeit und vermehrt soziale Kontrolle.«

Im August 2003 wurde Schill von Ole von Beust entlassen. Er hatte dem CDU-Bürgermeister damit gedroht, ihn als schwul zu outen und seine Beziehung mit dem Justizsenator Roger Kusch öffentlich zu machen. Die Schill-Partei brach nach dem Rückzug ihres Anführers auseinander.

Dieser lebt seit 2005 in Rio de Janeiro und engagiert sich nur noch für Shows wie »Promi Big Brother – das Experiment«. Sein Nachfolger als Innensenator und Gründungsmitglied der Schill-Partei, Dirk Nockemann, ist mittlerweile Chef der Hamburger AfD. Neben ihm standen 2015 bei den ersten Bürgerschaftswahlen, zu denen die AfD antrat, mit Peter Lorkowski und Karina Weber weitere frühere Mitglieder der Schill-Partei auf der Kandidierendenliste.

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