Auf der Suche nach Identität

Sorben und Zapatisten über koloniale Vergangenheit und Autonomiestreben

  • Louisa Theresa Braun, Nebelschütz
  • Lesedauer: 5 Min.

Ein gigantischer, grau-brauner, zerfurchter Krater erstreckt sich hinter der Kante, so weit das Auge reicht. In der Ferne sind Bagger zu sehen, spielzeuggroß, obwohl sie knapp 100 Meter messen. Rechts und links des Braunkohletagebaus Nochten in der sächsischen Lausitz an der Grenze zu Brandenburg steigen dicke Rauchschwaden gen Himmel. Sie gehören zu den Kohlekraftwerken Boxberg und Schwarze Pumpe. »Es sieht schon dystopisch aus«, sagt Ara. »Ziemlich erdrückend, aber auch eindrucksvoll« findet Klara den Krater. »Dieses Loch wurde aus Gier und Hochmut erzeugt«, sagt Hagen Domaška zu der 20-köpfigen Gruppe, der er an diesem Freitag den Tagebau zeigt.

Für den Braunkohleabbau in der Lausitz sind in den vergangenen 100 Jahren mehr als 120 sorbische Dörfer ganz oder teilweise abgebaggert und umgesiedelt worden. »Das hat mit dazu geführt, dass unsere Sprache in der Region heute fast verschwunden ist«, sagt Domaška. Er ist im obersorbischen Hoyerswerda groß geworden und empfand schon als Jugendlicher »ein Gefühl der Ohnmacht« gegenüber der Zerstörung seiner Heimat.

Die Tagebaubesichtigung ist Teil eines Vernetzungstreffens sorbischer, linker und Umweltgruppen aus Ostsachsen und der Lausitz, zu dem auch vier Indigene aus dem mexikanischen Chiapas eingeladen sind. Sie gehören zur Delegation der zapatistischen Befreiungsbewegung, die zurzeit in Kleingruppen durch Europa reist, um sich mit Aktivist*innen über koloniale, kapitalistische und ausbeuterische Strukturen auszutauschen.

Bei einem Treffen im Gemeindehaus von Nebelschütz, sorbisch Njebjelčicy, einer der letzten Gemeinden mit sorbischer Mehrheit, steht die Geschichte der Minderheit im Fokus. Genau wie die Zapatist*innen betrachten die Sorb*innen sich als indigenes Volk. »Vor etwa 900 Jahren begann ein Prozess der Kolonialisierung durch Deutschland«, erklärt Hagen Domaška. Dadurch sei das slawische Siedlungsgebiet, das sich ursprünglich über große Teile Ostdeutschlands erstreckte, im 15. Jahrhundert auf die Lausitz zusammengeschrumpft; der Großteil der sorbischen bäuerlichen Bevölkerung lebte damals als Leibeigene. »Die Kolonialmacht zerstörte in den assimilierten Gebieten unsere Gesellschaftsstruktur, Identität und Kultur«, erklärt der sorbische Kulturwissenschaftler Měrćin Wałda. Wie viele Sorb*innen es heute noch gibt, ist unklar, da die Volkszugehörigkeit eine Selbstzuschreibung ist. Laut Domaška gibt es noch etwa 20 000 Menschen, die Obersorbisch sprechen, und 5000 Menschen, die Niedersorbisch gelernt haben. Letztere Sprache ist damit akut vom Aussterben bedroht. Die Bewahrung sorbischer Identität, Sprache und Kultur ist zwar verfassungsrechtlich geschützt, aber in der Praxis werde das kaum umgesetzt.

Seit 1991 gibt es ein Übereinkommen über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern, das ihnen rechtsverbindlichen Schutz und Grundrechte wie das Recht auf Selbstbestimmung garantiert. Bislang wurde es erst von 24 Staaten ratifiziert, zuerst von Mexiko, zuletzt im April von Deutschland. »Aber Deutschland behauptet, dass es hier keine indigenen Völker gibt«, ärgert sich Domaška. Offizielle Interessenvertretung der Sorb*innen ist der Verein Domowina, »aber ein Verein ist zu wenig, um Identität zu erhalten«, findet Měrćin Krawc. Seit zehn Jahren kämpfen er und seine Mitstreiter*innen um eine politische Selbstvertretung, um vor allem über die Lehrpläne sorbischer Schulen selbst entscheiden und den Status der sorbischen Sprachen stärken zu können. 2018 wurde das erste sorbische Parlament Serbski Sejm gewählt, dessen Mitglied Krawc ist. Staatlich anerkannt ist es nicht, »aber es hat symbolischen Charakter und trägt zur Meinungsbildung bei«, sagt Domaška.

Im Gegensatz dazu hat die zapatistische Befreiungsbewegung in Mexiko seit einem bewaffneten Aufstand 1994 autonome basisdemokratische Strukturen im Land aufgebaut, in denen unter anderem das Bildungssystem selbst organisiert wird. Allerdings werden die Indigenen dort immer wieder bedroht und angegriffen, von rechtsgerichteten Paramilitärs wie auch von der mexikanischen Regierung. »Insofern ist unsere Lage natürlich überhaupt nicht mit der der Zapatisten zu vergleichen. Aber ihre Geschichte hilft, auch unsere besser zu verstehen«, sagt Hagen Domaška. Beide Völker verbänden zum Beispiel die Auswirkungen des kulturellen Überlegenheitsgefühls als Prinzip der Kolonialisierung - und die Machtlosigkeit gegenüber Zerstörung der eigenen Umwelt durch die Regierenden, wie sie am Tagebau Nochten sichtbar wird. Derweil kämpfen die Zapatist*innen in Mexiko gegen Luft- und Wasserverschmutzung sowie die Abholzung der Wälder.

Den Sorb*innen seien sie laut Domaška einen Schritt voraus, »weil sie erkannt haben, dass Ausbeutung und Kolonialismus mit autoritären Machtverhältnissen zusammenhängen«. Und auch von der zapatistischen Kritik an Kapitalismus und Patriarchat seien viele sorbische Gemeinschaften weit entfernt, die sich »in Teilen durch reaktionären Katholizismus« und patriarchale Traditionen auszeichnen würden.

»Das muss aber nicht das Einzige sein, das uns ausmacht«, findet Annelie Ćemjerec, die beim Treffen in Nebelschütz das »Kolektiw Wakuum« vorstellt, ein feministisches, inklusives sorbisches Kunst- und Kulturkollektiv aus Cottbus. »Wir versuchen, ein zeitgenössisches Bild von Identität zu schaffen, um gerade junge Menschen dazu zu bringen, sich wieder mit den eigenen sorbischen Wurzeln auseinanderzusetzen«, erklärt sie. So hat das Kollektiv mit der Punkband Pisse aus Hoyerswerda zusammen ein Musikvideo produziert, es werden sorbische Bücher übersetzt, Konzerte und Ausstellungen organisiert. »Das macht mir Mut«, sagt Domaška. Das »Loslösen von ausschließlich folkloristischen Traditionen« und die Rückbesinnung auf die Sprache wären der »Hauptgewinn« für die sorbische Kultur.

Politische Autonomie wird wohl noch lange eine Utopie bleiben - auch wenn der Serbski Sejm zurzeit an einem Staatsvertrag nach dem Vorbild der Staatskirchenverträge arbeitet. »Wir müssen es ja zumindest mal versuchen«, so Domaška. Das habe er vom Austausch mit den Zapatisten mitgenommen: »Wenn man sieht, dass man schlecht regiert wird, dann muss man die Dinge selbst in die Hand nehmen.«

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