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  • Willi-Sitte-Galerie Merseburg

»Auf Sprünge lassen wir uns gerne helfen«

Eine Hommage auf den Realismus in der Willi-Sitte-Galerie Merseburg

  • Elisabeth Voss
  • Lesedauer: 7 Min.

Die Vielfältigkeit des Realismus in der Ausstellung »Merseburger Sprüche und Sprünge« ist beeindruckend, weil es gelingt, die scheinbar extrem verschiedenen Künstlernaturen und Kunstsichten durch einen weiten Realismus-Begriff zusammenzuführen. Aber könnte es nicht als Geschichtsklitterei verstanden werden, Gerhard Altenbourg mit Willi Sitte zusammenzubringen?
Manche verweilen gleich eingangs der Ausstellung vor dem impulsgebenden Bild von Harald Metzkes, »Kollwitzstr. 59, 4. Stock«, und sind erst einmal baff, weil sie Gerhard Altenbourg in gewohnt parfümierter Geste inmitten dieser Gemeinschaft sitzen sehen und glauben, er habe sich in diese Tischgesellschaft mit Willi Sitte verirrt. Denn Altenbourg war nicht im Künstlerverband und nahm nie an den Kunstausstellungen der DDR in Dresden teil. Andere lehnen dieses Beisammensein ab, weil sie meinen, Sitte sei ein Zensor von Altenbourg gewesen. Das ist falsch, denn im Gegenteil hat sich Sitte für Altenbourg engagiert, so 1976. Beide stellten, obwohl nicht im gemeinsamen Kontext, in der westdeutschen Ausstellung »Zeitvergleich« und auch auf der Documenta 6 zusammen aus.

Das Beisammensein in Metzkes Wohnung mit Familie war nicht fiktiv, sondern wirklich. Warum hat Metzkes von dieser zufälligen Zusammenkunft ein großes Historienbild gemalt?
36 Jahre danach hielt er es für wichtig, im Bild festzuhalten, wie sich um 1961 gegensätzliche Künstler aus freien Stücken treffen und verständigen konnten. Die erwähnten Künstler, dazu kommen noch Wilhelm Lachnit, Manfred Böttcher, Werner Stötzer, Wilfried Fitzenreiter und Ronald Paris, stammen aus Sachsen, Thüringen, Berlin. Ihre Ausbildungsstätten lagen ringsum in der Republik: in Sonneberg, Weimar, Dresden, Halle, Berlin-Weißensee, Leipzig. Ihre künstlerischen Wege verliefen in verschiedene Richtungen und verkörpern ein Spektrum der Kunst, das dem weiten Realismus entspricht. Es war kein Freundeskreis und keine Artus-Runde, die politische und künstlerische Haltung ist verschieden. Somit könnten sich jetzt auch alle hier in der Willi-Sitte-Galerie Merseburg eintretenden Künstler eingeladen fühlen. Metzkes sagt, Sitte sei voll Freundschaftlichkeit gewesen. Das Historienbild preist vor allem mit dem Realismus auch das Gemeinschaftsgefühl. Diesem verlässlichen und solidarischen Wir widmete Harald Metzkes das monumentale Bild. Denn die Menschen entfalten ihr Ich am stärksten gleichberechtigt mit dem vielfältigen Du im gemeinsinnigen Wir.

Peter Arlt

Peter Arlt, geboren 1943 in Halle (Saale), lehrte bis 2009 Kunstgeschichte und -theorie in Erfurt. Das Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin erforscht Mythosrezeption als Realismuspotenz der realistischen bildenden Kunst, ist als Kurator tätig und Autor mehrerer Büchern, darunter »Der Hirt und die drei schönen Göttinnen« sowie »Die Flucht des Sisyphos. Griechischer Mythos und Kunst«. Mit dem Kunstexperten und Gestalter der neuen Ausstellung »Merseburger Sprüche und Sprünge« in der Willi-Sitte-Galerie in Merseburg sprach Elisabeth Voss.

»Merseburger Sprüche und Sprünge. Hommage auf den Realismus«, Willi-Sitte-Galerie Merseburg; geöffnet Mittwoch bis Freitag 10 bis 16 Uhr, Samstag, Sonntag und feiertags 13 bis 16 Uhr, Montag und Dienstag geschlossen. Am 5. November findet von 14 bis 17 Uhr in der Willi-Sitte-Galerie, Merseburg, Domstraße 15, ein Kolloquium zum Realismus statt; Teilnahmewunsch bitte anmelden.

Die Ausstellung ist dem 100. Geburtstag von Willi Sitte gewidmet und orientiert an den Merseburger Zaubersprüchen. Ist das Huldigung von etwas Vergangenem?
Wie beim 500. Todestag von Raffael? Dessen Kunst ist aber lebendig - wie die realistische Kunst, die wir ins Gedächtnis rufen wollen. Wir wollen zeigen, wie lebensvoll sie ist. Dazu muss sie, der ersten Zauberformel der »Merseburger Zaubersprüche« gleich, den Haftbanden und den Feinden entfahren, also den Gängelbändern des Kunsthandels und der Kunstpolitik entkommen. Viele bedankten sich für unser Engagement, dem Realismus in seiner Vielfalt eine Bühne zu bereiten, weil erst, wenn man sie sieht, Kunst zu Kunst wird. Jeder will seinen Spruch im eigenen Sinn und Stil frei entfalten und ihn mit Weisheit den vielfältigen Sprüchen der Realismus-Gemeinschaft beifügen.

Und zu den Merseburger Sprüchen kommen noch Sprünge?
Mit ihrem Gobelin »Merseburger Zaubersprünge« bringt Elrid Metzkes einen wichtigen Aspekt des Realismus ein. Voll mosaikartiger Schönheit und kunstvoller Bewegung wird mit kunstfertigem Springen und auch gedanklichem Radschlagen ein Wirklichkeitsmotiv sinnbildlich zur Kunst erhoben, im Sinne eines Aphorismus von Franz Marc: »Erkennt, meine Freunde, was Bilder sind: das Auftauchen an einem anderen Ort.«

Sie zeigen eine seltsam intensive und sehr besondere Sammlung einer realistischen Kunst insbesondere aus der Zeit der DDR, aber es fehlen einige wichtige Vertreter ostdeutscher realistischer Kunst.
Als der spätere Kurator habe ich etliche Künstler mit dem Merseburger Förderkreis ausgewählt. Die finanziellen Mittel sind klamm, und so konnten Werke von Künstlern von weiter her oder aus den Museen in zusammengebauten Kisten nicht herantransportiert werden. Manche angefragten Künstler hätten wegen des Realismus zwar teilnehmen wollen, aber sie wollten die Ehrung für Sitte nicht mitmachen. Außerdem haben sich Museen dem Anliegen verschlossen, und schließlich hat uns Corona im Handeln eingeschränkt. Aber selbst wenn es eine andere Ausstellung geworden wäre, den Hauptsinn erreicht auch diese: das Wir der 83 verschiedenen Künstler mit einer ausdifferenzierten Vielfalt des Realismus in fast 160 Werken in thematischer und stilistischer Breite und mit Besonderheiten zu präsentieren.

Für viele Besucher ist solch ein Querschnitt aus historischer Perspektive insofern interessant, da es ihre eigene Sozialisation und bei Künstlern einen Teil der künstlerischen Entwicklung mitbestimmt hat, auch mit Kunst, die ins Fahrwasser der Moral und Ideologie geraten ist.
Mit Abstand verdeutlicht sich so manches - vom Gewinn und vom Defizit her betrachtet. Die Defizite wiederholen wir nicht. Dagegen klagt ein Bild von Ronald Paris - für manche eine der stärksten und schönsten Malereien der Ausstellung - den Machtmenschen und Schreibtischtäter Apollon an, den Marsyas zu schänden, der sein Machtmonopol infrage stellte. Oder das tragische Schicksal in den Ikarus-Werken von Jost Heyder, Wolfgang Mattheuer und Winfried Wolk mit dem dialektischen und ambivalenten Gegensatz, ein heroisches Ideal zu sein mit seinem fortwährenden Niederstürzen, welches Krater zerstörter Hoffnung hinterlässt.

Besonders erscheint mir, dass Sie eine Kinderzeichnung einbezogen haben, um die »Kindschaft« in der Kunst zu demonstrieren, oder ein im »Neuen Deutschland« gedrucktes Gedicht im Passepartout an der Wand.
Volker Braun hat in dieser Zeitung am 15. August 1990 mit »Das Eigentum« das Gefühl der wirklichen Bürger der DDR ausgedrückt: »Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen. (…) Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle. / Wann sag ich wieder mein und meine alle.« Daran wollte ich mit dem Gedicht und der Radierung von Baldwin Zettl erinnern - dass uns der Grund unseres Landes wie ein Tuch unter den Füßen weggerissen wurde. Volker Braun schrieb mir zu dieser Ausstellung: »Auf Sprünge lassen wir uns gerne helfen.«

Was ist in der Ausstellung für Sie außerdem besonders?
Das letzte Selbstbildnis von Hannes H. Wagner vor seiner Erblindung. Und der persönlich berührende Höhepunkt der Ausstellung: die allerletzten künstlerischen Arbeiten Willi Sittes, der 91-jährig in acht Zeichnungen, in denen Mensch, Werk und Natur in seinem Leben nach dem Krieg bis in die Gegenwart, bis zum Tode ineinandergreifen, ein »Letztes Wort« zu seinem Leben künstlerisch zu gestalten suchte.

Endlich sind in Merseburg auch wieder Bilder von Arbeitern zu sehen.
Die einzigartige Bedeutung realistischer Kunst liegt darin, die menschliche Figur und das menschliche Antlitz als vornehmste Medien der Kunst hochzuhalten. Jetzt bleiben sie meist in Depots, als Kunst ausgeschlossen. Museen wie das Schlossmuseum Gotha, die Städtischen Museen Jena, das Angermuseum Erfurt, die Moritzburg Halle und das Stadtmuseum Berlin liehen uns gern das Prometheus-Diptychon von Heidrun Hegewald, Horst Sakulowskis »Lorelei«, Albert Eberts Bild-Medaillons, das Porträt der Dekorateurin von Ulrich Hachullas und das Bildnis einer Arbeiterin von Núria Quevedos, ihr erster Auftrag in der Malerei. Auch der 87-jährige Potsdamer Künstler Peter Rohn erlebt selten, dass sein Werk öffentlich wird.

Realismus beschränkt sich nicht auf die unmittelbare sinnliche Aneignung der Realität, sondern mit differenziertem Wirklichkeitssinn lässt sich ein Realismus verschiedenen Charakters hervorbringen.. Als Peter H. Feist damals vier Realismustypen beschrieb, den unmittelbaren, impressiv bis veristischen, den expressiven, den konstruktivistischen sowie den metaphorischen oder imaginativen Realismus, war somit alle Kunst Realismus.

Wie kann man es mit einer solchen Realismus-Erweiterung schaffen, dass nicht der Realismus verloren geht?
Willi Sitte erfüllte sein Anliegen, den »zu eng gewordenen konventionellen Sehschlitz« des Realismus zu sprengen. Alle Künstler suchen nach gestalthafter Zeichenfindung in eigener künstlerischer Form. Ingo Arnolds Textbild steht im Metrum der Musik und in der Metrik der Verskunst. Das Bildliche führt zu assoziierter Wirklichkeit, zu einem neuen synästhetischen Wechselspiel. Der Realist arbeitet mit allen Mitteln, um an die Realität heranzukommen. Damit soll er, nach Bertolt Brecht, den gesellschaftlichen Kausalkomplex aufdecken. Baldwin Zettl war neu überrascht, »die handwerklichen Verschiedenheiten zu sehen und wie DIESE nur ein Ziel anstreben, mit den Mitmenschen in Berührung zu kommen«. Schön wäre es, sagen zu können, die Einschätzung, der Realismus ist dem Leben des Volkes nahe, leuchtete dem Volke selbst ein.

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