Enttäuschte Erwartungen

Die Europäische Union zeigt sich ernüchtert vom Reformstau in Kiew. 20 Jahre EU-Unterstützung stärkten die ukrainische Rechtsstaatlichkeit nur wenig

  • Birger Schütz
  • Lesedauer: 4 Min.

Aus den spärlichen Zeilen klingt ziemlich deutlich die Frustration: »Die EU und die USA sind sehr enttäuscht über die unerklärlichen und nicht zu rechtfertigenden Verzögerungen bei der Wahl des Leiters der Spezialisierten Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAP)«, heißt in einer Erklärung, welche die Europäische Union und die US-Botschaft in Kiew nur drei Tage vor dem EU-Ukraine-Gipfel am Dienstag veröffentlichte.

Hinter dem bürokratischen Behördennamen verbirgt sich diplomatischer Sprengstoff: Denn seit mehr als einem Jahr scheitert Kiew daran, einen neuen Leiter der SAP zu wählen. Die Abteilung der ukrainischen Staatsanwaltschaft zur Bekämpfung der Korruption soll die Arbeit des im Gefolge der Maidanrevolution 2014 gegründeten Nationalen Antikorruptionsbüros (NABU) überwachen. Vor allem die EU knüpfte große Erwartungen an den Erfolg der elfköpfigen Behörde und hatte den 2017 gewährten visafreien Zugang der Ukrainer zum Schengenraum mit der Schaffung der SAP verbunden und weitere Hilfe in Aussicht gestellt.

Doch die Antikorruptionsbehörde geriet schnell unter Druck, Oligarchen und einflussreiche Strippenzieher in der ukrainischen Politik wehrten sich gegen unabhängige Ermittlungsorgane. Ein starker SAP-Chefermittler galt ihnen als unerwünscht. SAP-Leiter Nasar Cholodnyzkyj musste im August 2020 zurücktreten. Seitdem ist die Stelle unbesetzt. Die Wahl eines neuen Chefs - eigentlich eine Sache weniger Monate - scheiterte an Verfahrensfehlern oder offensichtlichen Tricksereien. Am vergangenen Wochenende erschienen beispielsweise drei Parlamentarier nicht zur Tagung des SAP-Wahlausschusses. Die Beschlussfähigkeit des Gremiums war nicht gegeben, die Wahl des SAP-Leiters musste ein weiteres Mal verschoben werden. Das anhaltende Scheitern bei der Besetzung des Chefsessels der Behörde untergrabe die »Arbeit der von der Ukraine und ihren internationalen Partnern eingerichteten Korruptionsbekämpfungsstellen«, kritisierten USA und EU daraufhin in ihrer gemeinsamen Stellungnahme.

Zwar reagierte Präsident Wolodymyr Selenskyj eilig auf den Rüffel und twitterte: »Die Mitglieder der Wettbewerbskommission müssen ihre Aufgaben ordnungsgemäß erfüllen.« Die Effektivität der Institutionen zur Korruptionsbekämpfung habe in der Ukraine Priorität. Doch die Erklärung des Staatschefs sei nicht besonders glaubwürdig, findet Tetiana Shevchuk vom Anti-Korruptions-Aktionszentrums in Kiew. Selenskyj reagiere auffällig spät, erklärte sie im Gespräch mit dem Radiosender Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL). In der Vergangenheit habe Selenskyj zudem viele Gelegenheiten verstreichen lassen, um sich nach ähnlichen Verzögerungen zu äußern.

Der Konflikt um die Spezialisierte Antikorruptionsstaatsanwaltschaft zeigt anschaulich, wie enttäuschte Erwartungen Brüssels Beziehungen zu Kiew prägen. Zwar verankerte die Ukraine das Ziel eines EU-Beitritts 2019 demonstrativ in der Verfassung. Aus Sicht der Europäischen Union - die Kiew keine Beitrittsperspektive in Aussicht stellt - unternimmt das Land aber nach wie vor zu wenig Reformanstrengungen. Die Westbindung der Ukraine wird durch Korruption, den nach wie vor großen Einfluss von Oligarchen und die von Korruption zerfressene Justiz gefährdet.

Auf das im September verabschiedete Oligarchen-Gesetz reagierte Brüssel nur zurückhaltend. Das in der Ukraine sehr umstrittene Gesetz gilt unter Kritikern als Instrument, mit dem sich Präsident Wolodymyr Selenskyj politischer Konkurrenten entledigen will.

Im selben Monat äußerte Brüssel Besorgnis über die nur schleppende Umsetzung eines im Juli angenommenen Gesetzes zur Anstellung neuer Richter. Das von der EU gelobte Vorhaben gilt als Kernstück der ukrainischen Justizreform und sieht die Einrichtung zweier Kammern vor, welche die Qualifikation von Juristen vor einer Übernahme in den Staatsdienst ausgiebig überprüfen soll, um so Korruption bei der Einstellung zu verhindern. Die beiden Gremien sollen aus jeweils sechs Experten bestehen: drei ukrainische Staatsbürger, die vom ukrainischen Richterrat ausgewählt werden, und drei ausländische Experten, die von den G7-Partnern Kiews bestimmt werden. Die ukrainische Justiz macht allerdings gegen die Reformen mobil und erklärt, die Einbeziehung ausländischer Experten in das Auswahlverfahren verletzte die Souveränität der Ukraine.

Ebenfalls im September zog der Europäische Rechnungshof ein ernüchterndes Fazit des bisherigen europäischen Kampfes gegen die Korruption in der Ukraine. »Obwohl die Ukraine Unterstützung unterschiedlichster Art vonseiten der EU erhält, untergraben Oligarchen und Interessengruppen nach wie vor die Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine und gefährden die Entwicklung des Landes«, erklärte Prüfer Juhan Parts bei der Vorstellung des Berichts. Die von der Europäischen Union in den vergangenen 20 Jahren gewährten Maßnahmen und Finanzhilfen hätten bisher nicht zu den erwünschten Ergebnissen geführt.

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