• Politik
  • Rechte Gewalt vor Gericht

Kollektive Motivationslosigkeit

Beim Fretterode-Prozess wird die Unlust der Polizei deutlich, gegen Rechtsextremisten zu ermitteln

  • Joachim F. Tornau, Mühlhausen
  • Lesedauer: 4 Min.

Immer wenn vor dem Landgericht im thüringischen Mühlhausen der sogenannte Fretterode-Prozess verhandelt wird, steht draußen auf dem Parkplatz dasselbe Auto. Ein dunkler BMW mit dem Kennzeichen EIC für den Landkreis Eichsfeld, zugelassen auf den NPD-Bundesvize und rechtsextremen Kameradschaftsführer Thorsten Heise. Es ist das Auto, mit dem die Neonazis Nordulf H. und Gianluca B. im April 2018 zwei antifaschistische Journalisten über die Straßen in Nordwestthüringen gejagt haben sollen, rund um das Dorf Fretterode, wo Heise und sie residieren. Es ist eine Tatwaffe, wenn man so will.

Auch am Dienstag, dem zehnten Verhandlungstag, kamen die beiden Angeklagten wieder mit eben diesem Wagen, als wäre nichts gewesen. Oder jedenfalls: nichts, was sie zu bereuen hätten. Laut Anklage sollen Nordulf H. und Gianluca B. die Rechercheure am Ende der Verfolgungsjagd mit einem Traktorschraubenschlüssel, einem Baseballschläger und einem Messer angegriffen und schwer verletzt haben. Und sie sollen den beiden Göttingern die Kamera geraubt haben, mit der sie zuvor am Anwesen von Heise fotografiert hatten.

Die Angeklagten behaupten, sich lediglich verteidigt zu haben. Doch die Beweislage spricht immer deutlicher gegen sie. Nicht nur haben Zeug*innen die Darstellung der betroffenen Journalisten bestätigt, auch die Jenaer Rechtsmedizinerin Else-Gita Mall erschütterte die Geschichte von der Notwehr. Dass Gianluca B., wie er beim Prozessauftakt behauptet hatte, von einem der beiden Journalisten der kleine Finger mit einem Baseballschläger gebrochen worden sei, erklärte die Sachverständige angesichts des Verletzungsbilds für äußerst unwahrscheinlich. Er habe sich wohl eher den Finger in einer Autotür geklemmt. Das hatte der NPD-Aktivist übrigens auch selbst angegeben, als er sich im Krankenhaus behandeln ließ.

Für das, was an jenem Frühlingstag in und um Fretterode genau passiert ist, interessiert sich die Verteidigung allerdings ohnehin wenig. Die Szene-Anwälte Wolfram Nahrath und Klaus Kunze verwenden ihre Energie nach wie vor fast ausschließlich darauf, die Opfer in ein schlechtes Licht zu rücken. Bereits zum wiederholten Mal stellte Kunze – einst bei den extrem rechten Republikanern aktiv und heute als Rechtsaußenpublizist um Intellektualität bemüht – Beweisanträge, die alle um dieselbe Unterstellung kreisen: Die zwei Journalisten seien gar keine Journalisten. Und ihr Besuch in Fretterode deshalb »alles andere als harmlos«.

Kunzes Logik geht so: Wer Rechtsextreme aus antifaschistischer Motivation heraus beobachtet, wer ihre Aktivitäten dokumentiert und fotografiert, wer also tut, was die beiden Nebenkläger nebenberuflich und in ihrer Freizeit getan haben, der wird quasi automatisch zum Teil eines linksterroristischen Netzwerks. »Es ist schlechterdings kein anderer Zweck solcher Veröffentlichungen erkennbar, als die Voraussetzungen für einen Anschlag zu schaffen«, sagte der Anwalt.

Das ist eine Lesart, die, wenn man die Zeichen richtig deutet, bei Staatsanwaltschaft und Gericht eher nicht verfangen wird. Bei der örtlichen Polizei aber scheint mancher eine ähnliche Sicht von Gut und Böse in Fretterode zu haben. Über »Scherereien« durch Antifa und Menschen, die sich als »freie Presse« ausgeben würden, hatte in der vergangenen Woche ein Beamter geklagt und zugleich mit viel Respekt von »Herrn Heise« gesprochen. Wie halbherzig er und seine Kollegen am Tattag ermittelt hatten, wurde am Dienstag noch einmal unterstrichen. So soll es nur einen Versuch gegeben haben, die geraubte Fotoausrüstung zu finden – bei einem Abfahren der rund acht Kilometer langen Strecke, auf der die Tatverdächtigen nach Hause zurückgekehrt waren. Eine Razzia bei Heise fand nie statt.

»In der Ermittlungsarbeit der Polizei vor Ort tun sich immer neue Abgründe auf«, kommentierte Nebenklageanwalt Sven Adam. »Die kollektive Motivationslosigkeit bei der Aufklärung der Tat ist dramatisch.« Gegen einen der eingesetzten Polizisten laufen jetzt sogar interne Ermittlungen, wie die Landespolizeidirektion Thüringen auf Anfrage bestätigte. Aber nicht um die Ermittlungspannen geht es dabei, sondern um eine Frage, die der Beamte nach seiner Zeugenvernehmung an Verteidiger Nahrath gerichtet haben soll und die, wie Anwalt Adam noch recht diplomatisch formulierte, »unangenehm viel Raum für Spekulationen« lässt: »War das in Ordnung, was ich gesagt habe?«
Für dieses Flurgespräch interessiert sich jetzt offenbar auch das Gericht. Am Montag ist der Polizist erneut als Zeuge geladen.

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