• Berlin
  • 83. Jahrestag Reichspogromnacht

Vor 80 Jahren begannen die Deportationen

Die Erinnerung an die verfolgten, verratenen und ermordeten Berliner Juden wird wachgehalten

  • Claudia Krieg
  • Lesedauer: 3 Min.

»Unauffällig Sabotage zu üben bedeutete, an die äußerste Grenze des Erlaubten zu gehen«, erinnerte sich die ehemalige jüdische Zwangsarbeiterin Marie Jalowicz Simon daran, wie eine ihrer Leidensgenossinnen in einer Berliner Produktionshalle des Siemens-Konzerns Anfang der 1940er Jahre versuchte, trotz ihrer Zwangslage Widerstand gegen die Nationalsozialisten zu leisten.

Wie präzise dieser zum Beispiel in der Sabotage der Kriegsproduktion sein musste, um nicht sich selbst und andere mehr als nötig zu gefährden, erklärte Jalowicz Simon, 1922 geborene Tochter eines jüdischen Anwalts, kurz vor ihrem Tod 1998 ihrem Sohn Hermann, der sie gebeten hatte, ihre Erinnerungen an ihr Überleben in der damaligen NS-Reichshauptstadt auf ein Tonband zu sprechen. Einige der Schilderungen, die Hermann Simon 2014 in dem Buch »Untergetaucht« herausgab, sind aktuell in einer Ausstellung zu finden, die bis Ende Dezember 2021 in einem Schaukasten vor dem Rathaus Tiergarten zu sehen ist. Entwickelt hat sie der Moabiter Verein »Sie waren Nachbarn« gemeinsam mit dem Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Schöneweide. Darin werden auch die rund 80 Orte vorgestellt, in denen Zwangsarbeiter*innen in Moabit untergebracht waren. Marie Jalowicz Simon war eine von mindestens einer halben Million Menschen in Berlin, die das Martyrium der Zwangsarbeit erleben mussten. Sie überlebte es, blieb nach der Befreiung 1945 in Berlin und wurde Professorin für Antike Literatur- und Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität.

Auch 83 Jahre nachdem die Nationalsozialisten in der Reichspogromnacht genannten Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 Schlägertrupps auf jüdische Geschäfte hetzten und jüdische Gotteshäuser in Brand setzten, wird in Berlin der Verfolgten und Ausgebeuteten gedacht. Die Pogrome waren überdies Wegbereiter für die Vernichtung von mindestens sechs Millionen Menschen.

In der Levetzowstraße in Moabit befand sich zu diesem Zeitpunkt eine der größten Synagogen Berlins. Die Nationalsozialisten richteten dort 1941 ein Sammellager für jüdische Berliner*innen ein, die sie anschließend in den Osten deportierten. Am Standort der im Krieg zerstörten Synagoge erinnert seit 1988 ein Mahnmal an die Deportierten. Am Dienstag wird um 18 Uhr am Gedenkort eine antifaschistische Kundgebung mit dem Shoah-Überlebenden Horst Selbiger, Redner*innen verschiedener Initiativen und Organisationen sowie Musik stattfinden. Anschließend wird es einen »Gedenkgang« zum Westhafen entlang von Deportationsorten geben.

Die Pogrome seien »kein spontaner Ausdruck des Volkswillens« gewesen, erklärte am Montag der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD). Sie seien staatlich unterstützt und organisiert gewesen, viele hätten von ihnen profitiert. Müller wird am Dienstag um 18 Uhr an der Gedenkveranstaltung an der Großen Synagoge in der Oranienburger Straße teilnehmen.

Vor dem Jüdischen Gemeindehaus in der Fasanenstraße 79-80 werden von 9 Uhr bis 21 Uhr die Namen der 55 696 ermordeten Berliner Juden und Jüdinnen aus dem Gedenkbuch des Landes Berlin gelesen.

Im Foyer des FMP1 (Franz-Mehring-Platz 1) wird ebenfalls ab Dienstag, 18 Uhr, bis zum 15. Dezember die Ausstellung »Im Schatten von Auschwitz« zu besichtigen sein. Der Fotograf Mark Mühlhaus begleitet seit vielen Jahren im Zuge von historisch-politischer Bildungsarbeit Jugendliche in NS-Gedenkstätten. Seine Bilder von solchen Reisen und Workshops sind genauso zu sehen wie Aufnahmen von Erinnerungsorten und Gedenkstätten an nationalsozialistische Verbrechen in Polen, Belarus und der Ukraine.

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