Sie ließ sich nicht entherzen

Vor 20 Jahren starb Regine Hildebrandt, beliebteste Politikerin Ostdeutschlands

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Deutschland steht vor einem Regierungswechsel. Eine große Koalition aber bleibt bestehen, von links bis konservativ: Es ist, als stünde Politik - zum Handeln verpflichtet - vor einem breiten, tiefen, reißenden Fluss und hätte, um hinüberzugelangen, nur eine einzige Idee: austrinken. Schon werden Pappbecher verteilt, natürlich mit der euphorischen Aufschrift »Aufbruch«. Überall fehlendes Charisma. Auch in den linken Oppositionsparzellen des Bundestages: personalstickige Beharrungskräfte und beim Identitätseifer draußen obsiegt Ausschlusskultur statt differenzierendem Denken.

Erinnerung an eine so ganz andere.

Regine Hildebrandt: Berlinerin aus der Bernauer Straße, Tochter eines Unterhaltungsmusikers, im Herbst 1989 eine Sozialdemokratin der ersten Stunde in Ost-Berlin, Ministerin in der letzten DDR-Regierung, dann Ministerin in Potsdam bei Manfred Stolpe und binnen Kurzem landesweit bekannt wie kein anderes Mitglied eines »nur« regionalen Kabinetts. Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen.

Sie warb vor geschlossenen Werktoren für ABM, sie ermunterte in verarmenden Kommunen zu Beschäftigungsinitiativen, sie klagte gegen egoistische westdeutsche Inbesitznehmer, sie wollte das selbstbestimmte Leben in Behindertenheimen, sie forderte Grundsicherungen für Alte, sie predigte das Prinzip der Polikliniken, sie verteidigte Volkssolidarität nicht als gestrige Einrichtung, sondern als zukunftsbildende Tugend - ihre Agilität setzte außer Atem.

»Na, det ist ja entzückend«, sagte die Biologin Dr. Hildebrandt oft, und sie wusste sehr früh, dass sie mit ihrer heraus- und hineinplatzenden Art, die alle Konventionen der politgeschäftlichen Gemächlichkeit sprengte und das Gegenteil von einem Image war, doch unrettbar als Image gehandelt würde. Regine Hildebrandt riss sich nicht um einen Platz in irgendeiner ersten Reihe, aber sie war auf eine verblüffend natürliche Weise dagegen gefeit, verdrängt zu werden.

Vereinnahmung und Druck hat sie zur Genüge erfahren. An der Seite ihres Mannes Jörg Hildebrandt - einem sanft-zähen Mutigen gegen den DDR-Rundfunkkiller Mühlfenzl, der ihn glatt hinauswarf - verkörperte sie eine äußerst ungerechte Logik: Wer sich öffnet, wird unausweichlich auch ausgeschlachtet; wer ungeschminkt auftritt, wird nicht selten ungeschlacht behandelt; wer allen freundlichst entgegenkommt, wird sofort verkumpelt.

1999 verließ sie die Regierung in Potsdam, nicht willens für eine Koalition mit der CDU. Zu stark ihre Erinnerung an »Blockflöten«. Vielleicht ahnte sie auch die weit bösere Wahrheit - die kam zeitgemäß kalt und spitz aus SPD-Kreisen: Jene Phase, mit dem Verbandsköfferchen durch den Osten zu ziehen, sei vorbei. Häme! Da war eine Mahnerin selbst in der eigenen Partei zum schrägen Vogel geworden; eine seltsam belächelte Weichgesottene inmitten der so siegreich Hartgesottenen.

Durch die Fügungen einer chaotisch schönen Zeit am Ende der DDR war sie in die Politik gekommen - das Gesetz einer malmenden Stetigkeit hat sie nach zehn Jahren wieder aus dem Amt genommen. Weil Hildebrandt nie bloß für Übergänge lebte, konnte sie politisch nur eine Heldin des Übergangs sein. Die Wirren im Herbst 1989 bauten auf die robust-liebenswerte Natur und die nervende Intelligenz dieser Frau - beides störte irgendwann den Betrieb der öligen Maschinisten.

Politik ist die Sphäre, darin Menschen entkantet werden. Hildebrandt nahm viele Opfer auf sich, um diesem größten Opfer zu entgehen: der Entfremdung von sich selbst. Sie ließ sich nicht entherzen. Lothar de Maizière, in dessen DDR-Kabinett sie war, hat über diese Politikerin gesagt, sie wolle mit Güte Recht herstellen. Wunderbares Urteil. Natürlich muss so etwas scheitern. Wenn man sich Fotos anschaute, auf denen sie geradezu als personifiziertes Volksfest wirkte, oder wenn man Tonmitschnitte zahlloser Wanderweg-Einweihungen oder Seniorenheim-Besuche hörte, also diese überbordende Menschennähe nacherlebte- dann schlich sich ein Schmerz in die Wahrnehmung: Man hätte diese Frau gern in Schutz nehmen wollen gegen Fallen der Abfälligkeit, die ein routinierter Betrieb gezielt aufstellt, weil er sich durch Menschlichkeit gestört fühlt. »Warum übernachtet die SPD-Spitze, etwa bei Parteitagen, nur immer in Nobelhotels, warum nicht in Gästezimmern unserer Wähler, abendliche Gespräche inklusive?«

Wenn sie, wegen der Zukunft, über die DDR-Vergangenheit sprach, glitt ihr der verhasste Staat DDR mitunter in ein mildes Licht, das sie gar nicht wollte. Aber wenn die Insulinforscherin, wegen der schönen Erinnerungen an das frühere Gemeinschaftsleben im VEB, die Gegenwart kritisierte, dann deshalb, weil sich die errungene Freiheit plötzlich (auch!) als Auslöserin von Egoismus, Gier, Gleichgültigkeit offenbarte. Der glücklich abgeschüttelte Staat hatte sich in ihr eingenistet, weil sie im Betrieb, in Kinderferienlagern, in Arbeitsgemeinschaften, im Chor mit den oft ermüdenden Bedingungen tapfer und taff und trotzig zurechtgekommen war. Die angeordneten Einschnürungen durch Kollektivität hatte sie stets in ermutigende Gemeinde umgewandelt. »Wo sind heute die Ferienlager für die Kinder von Familien, die wenig Geld haben und doch trotzdem glücklich sein wollen?« Wieder sehe ich die Hämischen von der stilsicheren Seite des höheren Aufwandes herabblickend, aber ich sehe auch Roger Willemsen, der mir in einem Interview sagte: »Uns ernährt die weltweite Sklaverei. Die Gesichter der Gerechten - und Regine Hildebrandt ist bestimmt eine davon - werden uns erscheinen und mit Liebe geradezu peinigen, weil wir Liebe nicht verdient haben.«

Wir leben mit der Unsicherheit unseres Wissens von der Welt und mit dem sicheren Bewusstsein unseres Sterbens. Die Unlösbarkeit dieser Probleme weckt in uns einen Anspruch auf Entschädigung. Dessen höchster Ausdruck ist Religion. Oder Verdrängung. Oder aber Arbeit. Dass der Tod nicht erst als Tod auftritt, sondern vorher schon, unter verschiedenen bürgerlichen Namen wie Gewöhnung, Wiederholung, Desinteresse, das hat Regine Hildebrandt nie akzeptieren können.

Vom Todestag der Krebskranken, dem 26. November 2001, lässt sich nur sagen: Es war halt der einzige Tag, an dem sie nicht aufstand, um aktiv zu werden. Als wolle sie an diesem Morgen einfach nur sagen: Ich gehe nicht sterben - soll der Tod mich gefälligst holen. Und ansonsten wie immer: arbeiten bis zum Umfallen, sonst fällt man schon vorher um. »Wir müssen aus dem Knick kommen, det isset.«

Schon im Jungmädchenkummer, und dann ein Leben lang, griff sie zum besten Mittel gegen Verzweiflung: »Beschäftigung, die nie ermattet.« Schiller. Fehlender Aktionsradius war ihr ein Gräuel. Höherer Beistand? Höchstens, dass sie trostbittend zum geliebten Sternenfernrohr ging: Sterne sind nicht verrückbar, gut so! An die kann man sich halten. Sterneschauen war für Regine Hildebrandt eine Gemütsmassage. Am schönsten für sie: schwirrende Insekten im Schein von Straßenlaternen - die glichen, durchs Fernrohr betrachtet, Feuerkörpern, die glühende Haken ins All schlugen.

Schön und selten: diese Frau als Romantikerin ertappen zu dürfen. Denn auch wenn sie unentwegt Blumen bestimmte, Vogelstimmen »sammelte«, in Eiswasser badete - diese Leidenschaftliche war am leidenschaftlichsten Pädagogin, Erzieherin, Bewusstseinsformerin, Sportlerin, Ordnungsstifterin. Genießen war Arbeit, Erkenntnis der Lohn, Erschöpfung eine Ausrede (der anderen!); sie wollte schneller sein als die Uhr - wollen doch mal sehen, ob der Tag nicht doch 25 Stunden hat!

Hatte er, vielleicht sogar 26, aber dieses Leben dauerte nur sechzig Jahre. Es bleibt traurig.

Hans-Dieter Schütt ist Autor der Biografie »Regine Hildebrandt. Ich seh doch, was hier los ist« (Gustav Kiepenheuer Verlag).

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