Große Gedanken und große Leidenschaft

Da-daam, da-daam: Teodor Currentzis dirigierte in Berlin die Vierte Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 7 Min.

Was soll und was kann das sein, eine »sozialistische Sinfonie«? Schockierende Aufschreie zu Beginn, gefolgt von einem mitreißenden Marsch mitten aus den donnernden Maschinen der modernen Fabriken, voran, voran! Kammermusikalische Szenen, intime Soli wechseln sich ab mit furiosen, von Pauken und Trompeten beziehungsweise Posaunen vorangetriebenen, markerschütternden Passagen. Dmitri Schostakowitsch hat das Welttheater der beginnenden Moderne in seine große, einstündige Sinfonie gepackt, die von den rund hundert Musiker des musicAeterna-Orchesters unter Teodor Currentzis am 1. Dezember in der Berliner Philharmonie fesselnd und faszinierend interpretiert wurde.

Schostakowitsch hat die Arbeit an seiner Vierten Sinfonie in c-Moll op. 43 im Jahr 1934 begonnen, zu einer Zeit, als in der Sowjetunion eine neue Kulturpolitik den »sozialistischen Realismus« zum Ziel erklärte, und Schostakowitsch hatte einen neuen Archetyp der Sinfonie schlechthin vor Augen, eine gesellschaftliche Aufgabe. Ende Dezember 1934 schrieb der Komponist über das Werk, an dem er gerade arbeitete: »Dies wird eine monumentale Sache großer Gedanken und großer Leidenschaften sein. (…) Mit vollwertigen Werken auf den ›gesellschaftlichen Auftrag‹ unserer Epoche zu antworten, ihr Trompeter zu sein - dies ist Ehrensache jedes sowjetischen Komponisten.«

Es wird bis heute gerne so getan, als ob es eine staatliche Blaupause für Kompositionen des sozialistischen Realismus gegeben habe, an den sich die Komponisten der Sowjetunion zu halten gehabt hatten - was ziemlicher Unsinn sein dürfte. Tatsache ist, dass es die Komponisten der ersten Hälfte der 30er Jahre selbst waren, die einen neuen Stil entwickelt haben, der möglicherweise (und im Nachhinein!) als »sozialistischer Realismus« bezeichnet werden kann. Und der so vielfältig ist, der sich derart mannigfaltiger Formen und Ausgestaltungen bedient, dass es fast schon wieder absurd ist, all diese Kompositionen an den Boden einer fragwürdigen Schublade festnageln zu wollen.

Gewissheit haben wir darüber, dass Schostakowitsch nach neuen sinfonischen Wegen suchte, ganz so, wie schon Beethoven 1803 bekannte, »einen neuen Weg einschlagen zu wollen«. Und dass er sich immer wieder auf Mahlers Sinfonien bezog, aber auch auf Hindemith oder Bartók, deren Einflüsse in dieser Sinfonie ebenfalls klar zu erkennen sind. Vor allem bedient sich Schostakowitsch der Mahlerschen Sampletechnik, in der die verschiedensten Musiken, »banale« Melodien oder Tanzmusiken ebenso wie hochintellektuelle Fugentechniken, und sogar Geräusche und das »Geklappere« der Welt nebeneinander montiert werden. Da ertönt von der Solotrompete mal das »Wacht auf, Verdammte dieser Erde« aus der »Internationalen«, da erleben wir eine Art Walzer, der aber rasch verfremdet wird mit russischen Tanzmelodien, einigen angedeuteten Jazzfetzen und sarkastischen Dissonanzen - in der Moderne ist eben jeder Tanz immer auch einer auf dem Vulkan.

Natürlich ist der musikalische Extremist Teodor Currentzis der ideale Dirigent für diese Musik. Er lässt die musikalischen Granaten eben tatsächlich und fast unaushaltbar in fünffachem Fortissimo explodieren, wo das vom Komponisten vorgeschrieben ist. Er gibt dem Fagottisten (wunderbar: Talgat Sarsembayev und peinlich, dass im deutschen Programmheft zwar der Kontrafagottist, nicht aber die drei Fagottisten erwähnt werden) oder dem Konzertmeister Afanasy Chupin an der Violine Gelegenheit, in ihren gefühlvollen und ausschweifenden Soli einen Gegenpol zu den teils gewalttätigen Tutti zu formulieren, eine Reminiszenz an alte Zeiten oder vielleicht an utopische Idyllen. Er lässt die Flötistinnen (ausgezeichnet: Laura Pou sowie Marta Santamaria an der Piccoloflöte) Naturlaute und Vogelgezwitscher anstimmen oder sie auch mal mit herben Dissonanzen gegen den Streichersound intervenieren. Wie Schostakowitsch überhaupt den mächtigen Tutti-Orchestersound häufig mit langen kammermusikalischen Passagen kontrastiert. Es ist unfassbar, wie das Orchester in dieser ungemein schwierigen Partitur agiert: Voller Virtuosität und Dramatik, wie man es nur selten zu hören bekommt. Gegen die Hemmungslosigkeit etwa des wild-berauschenden langen Presto-Fugato der Streicher im ersten Satz verblasst der Walkürenritt zu einer harmlosen Schlittenfahrt.

Und wie ist das nun mit Stalin und Schostakowitsch? Weite Teile des deutschen Feuilletons sind ja bis heute dem Kalten Krieg verhaftet und können sich Schostakowitsch nur als Antipode zu Stalins Regime, in einem ewigen Kampf des unabhängigen Komponisten gegen einen feindlichen, sozialistischen Staat vorstellen. Die britische Musikwissenschaftlerin Pauline Fairclough hat 2006 in ihrer umfangreichen Studie zu Schostakowitschs Vierter Sinfonie (»A Soviet Credo«) nachgewiesen, dass diese westliche Narration nicht nur die Rolle der Musiker im Sowjetstaat unzulässig vereinfacht, wenn sie sie nicht sogar zu ewigen Dissidenten romantisiert, sondern nicht zuletzt auch zur herrschenden Ansicht beiträgt, dass sich Künstler nur im »freien« Westen wirklich ausdrücken können und dürfen.

Zum Bild von Schostakowitsch als anti-sowjetischen Helden dürften vor allem die angeblichen Memoiren des Komponisten beigetragen haben, die 1979 vom aus der Sowjetunion emigrierten Journalisten Solomon Volkow in den USA herausgegeben wurden. Es bestehen heute keine Zweifel mehr daran, dass Volkows Buch nicht als Schostakowitschs Memoiren betrachtet werden können; Schostakowitschs Sohn Maxim stellte 1981, nachdem er in den Westen emigriert war, fest, dass es ein Buch »über« seinen Vater sei, keinesfalls aber »von« diesem.

Dennoch geistert Volkows Buch bis heute als Zerrbild des Komponisten durch die westliche Berichterstattung, verstärkt noch durch Julian Barnes Roman »Der Lärm der Zeit«, in dem der Autor den Komponisten jede Nacht mit gepacktem Koffer neben dem Fahrstuhl seiner Leningrader Wohnung darauf warten lässt, dass Stalins Schergen kommen und ihn abholen. Ob die Veröffentlichung oder Aufführung der Vierten Sinfonie Schostakowitsch tatsächlich in Gefahr gebracht hätte, darf bezweifelt werden. Warum sollte seine Fünfte, seine »Rehabilitations«-Sinfonie, 1937 so offensichtlich »akzeptabel« gewesen sein, und seine Vierte ein paar Monate zuvor »unakzeptabel«? Pauline Fairclough verweist darauf, dass die Vierte Sinfonie durchaus ein glänzendes Beispiel just des neuen Typus einer sowjetischen, »sozialistisch-realistischen« Sinfonie war, wie ihn Komponisten und Musikwissenschaftler damals gefordert haben.

Warum die Uraufführung der im Mai 1936 fertiggestellten Sinfonie im Herbst 1936 letztlich abgesagt wurde, kann jedoch nicht mehr geklärt werden. Natürlich stand der Komponist seit dem berüchtigten »Prawda«-Artikel »Chaos statt Musik« vom Januar 1936, in dem seine Oper »Lady Macbeth von Mzensk« vernichtend rezensiert wurde, unter massivem Druck. Dennoch trieb Schostakowitsch die Uraufführung seiner Sinfonie mit den Leningrader Philharmonikern unter dem aus Österreich emigrierten Dirigenten Fritz Stiedry voran, als Termin der Premiere wurde der 30. Dezember 1936 (nicht »im Herbst«, wie das Programmheft wissen will) veröffentlicht. Gleichzeitig sicherte der Komponist Otto Klemperer das Recht der Erstaufführung außerhalb der Sowjetunion zu.

Ob es nun zur Absage der Uraufführung kam, weil der Dirigent nach Ansicht Schostakowitschs mit dem Werk überfordert war (die gängige, aber auch strittige Narration), oder weil Funktionäre etwa vom Komponistenverband und von der Direktion der Philharmonie ihm das nahegelegt haben, muss offenbleiben. Schostakowitsch selbst bekannte 1974: »Die Behörden versuchten alles in ihrer Macht Stehende, um mich zur Buße zu bewegen und meine Sünden zu bekennen. Aber ich habe das verweigert. Ich war damals jung und voller körperlicher Stärke. Statt Buße zu tun, schreib ich meine vierte Sinfonie.«

Wie auch immer - all diejenigen, die Schostakowitsch auf seine vermeintliche Rolle als Antipoden Stalins verkürzen, tun ihm Unrecht, denn sie relativieren die Größe und Zeitlosigkeit seiner Musik, besonders der Vierten Sinfonie, die der Komponist in kluger Selbsteinschätzung für seine beste hielt; ganz abgesehen davon, dass Schostakowitsch durchaus stolzer Sowjetbürger war und definitiv kein Antikommunist (und erst recht kein Pro-Kapitalist). Man könnte ihn am ehesten als »unpolitischen« Humanisten mit Sympathien für die Sowjetunion, in der er lebte und arbeitete, bezeichnen.

Welche tiefe, magische Wirkung Schostakowitschs Vierte Sinfonie damals hatte und immer noch hat, zeigt sich am Schluss der Aufführung. Nach einer längeren Kammermusikszene mit allerlei Tanzmusikeinschüben kehrt die Musik zum Trauermarsch zurück, unterbrochen von dissonanten Bläserfanfaren. Eine traumhafte, immer leiser werdende Melodie vom Horn, später der Flöte und dann den Violinen, begleitet von beharrlichen Vierteln der Kontrabässe, Harfe und Pauken leiten in die Coda über und ersterben dann über den nun synkopierten Tönen der Bassgruppe. Donnergrummeln von Ferne, die Trommel wirbelt kaum hörbar. Alles erstirbt, während die Bassgruppe unbeirrt ihre Synkopen spielt, da-daam, da-daam, da-daam. Die Celesta hebt mit einer leisen himmlischen Melodie in gegenläufigem Rhythmus an. Die Bässe kommen zur Ruhe, ihr Pulsschlag endet in gemeinsam mit den Streichern lang ausgehaltenen, kahlen c-Moll-Akkorden, über denen die Celesta ihre sehnsuchtsvolle Melodie aus den drei Tönen dieses Grundakkords spielt. Als letztes, »morendo«, absterbend, dann ein hohes, dissonantes d. Ausweglosigkeit und pure Magie.

Dirigent, Orchester und Publikum halten über eine Minute den Atem an, die Welt steht still, ehe der Jubelsturm ausbricht. Schostakowitschs Vierte Sinfonie, und erst recht auch diese Aufführung: ein Geniestreich!

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