Initiative kauft Berliner Häftlinge frei

Projekt »Freiheitsfonds« kritisiert das System der »Ersatzfreiheitsstrafe« bei Fahren ohne Fahrschein und hilft Betroffenen

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ohne gültigen Fahrschein ist in Deutschland eine Straftat. Als »Erschleichen von Beförderungsleistungen« wird sie mit einer Geldstrafe geahndet. Wenn diese nicht bezahlt werden kann oder der Betroffene sich weigert, dies zu tun, folgt eine Inhaftierung. Schätzungen zufolge sitzen Tausende Menschen bundesweit sogenannte Ersatzfreiheitsstrafen ab, weil sie sich die Tickets nicht leisten konnten. Die neue Initiative »Freiheitsfonds« hat nun einige dieser Personen »freigekauft«, darunter alle betroffenen Frauen in Berlin.

»Wir haben in dieser Woche in Berlin Gefängnisse besucht und 21 Personen befreit, indem wir ihre Strafen bezahlt haben«, erklärt das Projekt auf seiner Webseite. Man habe so 28 000 Euro für Strafzahlungen aufgewendet und damit 2130 Hafttage aufgelöst. »Abgesehen davon, dass niemand für das Fahren ohne Fahrschein hinter Gittern sitzen sollte, spart jeder aufgelöste Hafttag den Steuerzahlern etwa 150 Euro«, hieß es weiter. Die durch die Aktion gesparte Summe beläuft sich demnach auf 319 000 Euro. Das Projekt verweist darauf, dass der Bundesgerichtshof 1990 entschieden hat, dass gegen die Zahlung von Geldstrafen oder die Ablösung von Ersatzfreiheitsstrafen durch Dritte nichts einzuwenden sei.

Der Freiheitsfonds fordert, dass Fahren ohne Fahrschein zur Ordnungswidrigkeit herabgestuft wird und dass der Personennahverkehr mittelfristig kostenlos genutzt werden können sollte. Das Konto, auf das man für weitere »Befreiungen« spenden kann, wird von Arne Semsrott betrieben. Nach Angaben des Journalisten zahlten über das Wochenende 4000 weitere Personen in den Fonds ein, so dass nun mehr als 200 000 Euro zur Verfügung stünden.

»Der Freiheitsfonds wird nicht auf Dauer staatliches Handeln ersetzen«, erklärte Semsrott. Im Gegenteil: Man untergrabe so das Strafsystem und zeige, dass die Verfolgung des Fahrens ohne Ticket als Straftat »sinn- und würdelos« sei. »Betroffene werden erniedrigt und weggesperrt, Gefängnisse sind überfüllt, der Staat bleibt auf den Kosten sitzen.« Es sei für alle besser, wenn deswegen niemand in den Knast müsse. »Wir werden mit dem Fonds so viele Menschen befreien, wie mit den Mitteln möglich ist«, bekräftigte der Journalist. Er verwies auf die Entstehung des Gesetzes 1935, also in der Zeit der Hitlerdiktatur.

Eine begleitende Recherche des ZDF- »Magazin Royale« und von fragdenstaat.de untersuchte Dokumente der Justizministerien sowie Studien zum System der Ersatzfreiheitsstrafen. Jede vierte Person, die eine solche derzeit in Deutschland verbüße, sitze demnach wegen Fahrens ohne Ticket ein, Tendenz steigend. Zudem sei die Mehrheit derer, die Ersatzfreiheitsstrafen absitzen, erwerbslos. Jeder Dritte sei suchtkrank und mehr als ein Achtel obdachlos.

Doch wird das Thema bundespolitisch demnächst angegangen? Im Ampel-Koalitonsvertrag wurde zumindest festgehalten, dass das Strafrecht immer nur »Ultima Ratio« sein solle. Die Kriminalpolitik orientiere sich an Evidenz und an der Evaluation bisheriger Gesetzgebung im Austausch mit Wissenschaft und Praxis. »Das Sanktionensystem einschließlich Ersatzfreiheitsstrafen, Maßregelvollzug und Bewährungsauflagen überarbeiten wir mit dem Ziel von Prävention und Resozialisierung«, halten die Koalitionäre fest. Was das jedoch konkret bedeutet und ob es reale Veränderungen geben wird, ist bisher unklar.

Auch in Berlin will sich derweil die rot-rot-grüne Koalition dafür einsetzen, dass »Ersatzfreiheitsstrafen seltener verbüßt werden müssen, indem Angebote der gemeinnützigen Arbeit verstärkt werden und der Umrechnungsmaßstab angepasst wird«. In der Hauptstadt verbüßten im Sommer wieder 165 Menschen eine Ersatzfreiheitsstrafe, aufgrund der Pandemie war diese jedoch zeitweise ausgesetzt. Schätzungen zufolge sind bundesweit etwa 7000 Personen betroffen, rund drei Prozent aller angezeigten Fälle.

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