Jeder fünfte Stuhl bleibt leer

In einem Thüringer Seniorenheim sind 28 Bewohner an Covid-19 verstorben – Patientenschützer fordert Debatte über Impfentscheidungen

  • Sebastian Haak
  • Lesedauer: 4 Min.

So einladend die Webseite der Seniorenresidenz im südostthüringischen Rudolstadt auch aussieht, so dramatisch ist das, was sich dort in den vergangenen Tagen zugetragen hat. Gleich mehrfach musste der Betreiber in den vergangenen Tagen die Zahl derer nach oben korrigieren, die dort im Zusammenhang mit einer Covid-19-Erkrankung gestorben sind. Die bislang letzte Meldung vom Dienstag spricht von 28 der insgesamt 141 Bewohner innerhalb kurzer Zeit, das ist jeder fünfte Bewohner des Seniorenheims. Viele Stühle an den Ess- oder Gemeinschaftstischen im Haus werden nun leer bleiben.

Zum Aufreger wurde die Nachricht auch deshalb, weil nach Angaben des Betreibers 22 der 28 Coronatoten in der Einrichtung nicht gegen Covid-19 immunisiert waren – und das, obwohl nach Angaben des zuständigen Landratsamtes Saalfeld-Rudolstadt alle Heimbewohner die Möglichkeit zur Impfung hatten.

Bundesweit steht dieses Heim nun für zwei Dinge: Einerseits unterstreichen die gehäuften Todesfälle, wie gefährlich Covid-19 besonders für alte Menschen ist. Laut einer kürzlich veröffentlichten Statistik waren von den etwa 600 Coronatoten der vierten Welle, die es im Freistaat gab, etwa 500 über 70 Jahre alt. Etwa 80 Prozent der aktuellen Thüringer Coronatoten gehören also zu dieser Altersgruppe. Andererseits ist diese Seniorenresidenz in Rudolstadt nun zum bundesweit beachteten Ausweis dafür geworden, wie leichtsinnig und gerade im hohen Alter potenziell tödlich es ist, sich nicht gegen Covid-19 impfen zu lassen. Denn auch wenn es immer wieder Impfdurchbrüche gerade bei älteren, geimpften Menschen gibt: Dieses Beispiel zeigt auch, wie gut die zugelassenen Impfstoffe gegen einen schweren oder gar tödlichen Covid-19-Verlauf schützen – und mit welcher hohen Rate jene sterben, die sich ungeschützt mit Corona infizieren.

Insgesamt sei rund ein Drittel der Bewohner dieses Heims nicht geimpft gewesen. Vertreter der Betreiberfirma erklärten zuletzt mehrfach, die noch immer ungeimpften Bewohner oder deren Angehörige hätten sich bewusst gegen den Impfschutz entschieden. Nach Angaben des Heimbetreibers hatten alle 28 Gestorbenen einen Bevollmächtigten oder Betreuer.

Die Deutsche Stiftung Patientenschutz fordert nun eine Debatte über den Umgang mit Corona-Impfentscheidungen von Menschen, die unter Betreuung stehen. Eigentlich seien in solchen Fällen die behandelnden Ärzte in der Verantwortung, ein Betreuungsgericht anzurufen, um den Willen der Bewohner zu klären, sagte Vorstand Eugen Brysch der Deutschen Presse-Agentur. Das sei grundsätzlich nötig, wenn sich die Meinung von Arzt und Bevollmächtigten in Betreuungsfragen unterschieden. »Alles andere ist fahrlässig.« Ein Nein des Betreuers oder Bevollmächtigten reiche nicht aus, es müsse der Willen des Patienten geklärt werden.

Auf der Webseite der Residenz ist indes zu lesen: »Bitte bedenken Sie, dass es in unserer Situation nicht um Schlagzeilen und Ansichten von Impfgegnern oder Impfbefürwortern geht, sondern um menschliche Schicksale.« Es gehe um Respekt vor der Trauer der Angehörigen und den Mitarbeitern des Hauses. Doch so sehr sich der Betreiber mit diesen Zeilen offenbar aus der hitzigen Debatte zwischen Impfgegnern und Impfbefürwortern heraushalten will, so sehr schaltet sich das Heim mit diesem, ebenfalls dort zu findenden Satz ein: »Wir haben die Erfahrung machen müssen, dass das Virus vor allem bei ungeimpften Bewohnerinnen und Bewohnern schwere und tödliche Krankheitsverläufe verursachte und erneuern daher unseren Appell, sich für eine Impfung zu entscheiden.«

Ob derartig mahnende Worte allerdings durchdringen werden? In Thüringen ist die Impfquote, besonders im ländlichen Raum, noch immer viel niedriger ist als im Bundesdurchschnitt, auch bei Menschen im hohen Alter. Während beispielsweise in Berlin fast 90 Prozent der über 60-Jährigen inzwischen vollständig gegen Covid-19 geimpft sind, sind es in Thüringen nur etwa 83 Prozent. Allen bisherigen Appellen zum Trotz – und den seit Wochen anhaltenden hohen Infektionszahlen in dem Bundesland.

Impfverweigerer oder bisher nur ohne Angebot? Einfach zugängliche Impftermine sind oft noch die Ausnahme – besonders für Benachteiligte

Immerhin, einen kleinen Lichtblick: Seit Mittwoch können die Bewohner des Pflegeheims wieder Besucher empfangen. »Dies ist nach den zurückliegenden dramatischen Wochen ein ersehntes Zeichen auf Überwindung des Infektionsgeschehens.« Das steht auch auf der Webseite des Pflegeheims.

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