Ein Potsdamer im schwindenden Eis

Forscher Markus Rex berichtet über die größte Polarexpedition aller Zeiten

  • Wilfried Neiße
  • Lesedauer: 5 Min.

Auch wenn das Ende nun einige Monate zurückliegt: Der überwältigende Eindruck ist nicht verflogen und wird noch lange bestimmend sein. Die größte Polarexpedition aller Zeiten bietet noch jahrelang Material, das auszuwerten ist. Und sie war »im Kern ein brandenburgisches Projekt«. Darauf machte der Expeditionsleiter, Professor Markus Rex von der Universität Potsdam und Chef der Sektion Atmosphärenphysik des Alfred-Wegener-Instituts bei einem kürzlichen Auftritt vor dem Wirtschaftsforum im Potsdamer Hotel »Dorint« aufmerksam.

Die Idee für das gewaltige Mosaic-Unternehmen war von seinem Vorgänger Klaus Dethloff ausgegangen, also von Brandenburg - und »Brandenburg ist damit weltweit sichtbar geworden«, unterstrich Rex. »Mosaic« steht für »Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate«, zu Deutsch: Multidisziplinäres Drift-Observatorium für das Studium des arktischen Klimas.

Insgesamt 450 Wissenschaftler und Mitarbeiter, die 37 Nationalitäten angehören, haben an einer Expedition teilgenommen, die 140 Millionen Euro gekostet hat und in deren Rahmen sich das Forschungs-Mutterschiff »Polarstern« auf einer winterlichen Drift im Nordpoleis befand. Das Forschungsvorhaben erregte internationale Aufmerksamkeit. »Deutschland alleine wäre nicht in der Lage gewesen, diese Expedition durchzuführen«, hatte Rex im Vorfeld der Expedition erklärt.

Nirgends sei die »dramatische« Entwicklung des Klimawandels so offensichtlich wie in der Zone des ewigen Eises, das allmählich keines mehr zu sein drohe. »Hier befindet sich quasi das Epizentrum der globalen Erwärmung«, so der Expeditionsleiter. Schon in Nord-Norwegen stoße man auf Fjorde, die traditionell zu den eisigen Regionen gehört hätten, aber »seit zehn Jahren nicht mehr zugefroren« seien, berichtet er heute. Eine ihm selbst bekannte Eiskante habe sich zwischen 2008 und 2018 um zwei Kilometer zurückgezogen. »Früher benutzten die dort lebenden Menschen Skier, heute das Boot«, sagt er. Soziale Folgen seien unausweichlich; traditionelle Familienbande der dort Lebenden lockerten sich.

Diesen Sommer kam Werchojansk, 115 Kilometer nördlich des Polarkreises gelegen und mit gemessenen Temperaturen bis über 60 Grad minus als kälteste Stadt der Welt bekannt, in die Schlagzeilen: Am 20. Juni 2021 wurden 38 Grad plus registriert - so heiß war es noch nie in diesen Breitengraden.

Der Polarforscher Rex zollt seinem berühmten Vorgänger Fridtjof Nansen Respekt, der vor rund 100 Jahren entdeckt hatte, dass das Eis am Nordpol nicht statisch ist, sondern in Bewegung. Dies habe sich die Mosaic-Expedition zunutze gemacht und sich für einen Winter dort einfrieren lassen. Man habe in einer Scholle ein »schönes Stück Eis« gefunden, das sich für die Eisfahrt eignete.

Markus Rex zieht ein deprimierendes Fazit: »Dieses Eis ist dabei, zu verschwinden.« Die Temperaturen lägen heute um zehn Grad über denen, die Nansen gemessen habe, die Eisdecke sei heute noch »halb so dick«. Im Polarsommer habe zu Nansens Zeiten an der Nordkappe der Erde eine Eisfläche von acht Millionen Quadratkilometern bestanden, sie sei heute auf die Hälfte zusammengeschmolzen. »Unsere Generation könnte die letzte sein, die dort eine ganzjährige Eisdecke beobachten kann«, prophezeit Markus Rex. Bis zu 15 Grad könnten laut Klimamodellen die Temperaturen in der Region in den nächsten Jahrzehnten steigen.

Noch deutlich erinnert er sich an den Tag, »an dem wir zum letzten Mal die Sonne gesehen haben«, berichtet Rex. Was dann monatelang folgte, sei die »brillant schwarze« Polarnacht gewesen und das andauernde Gefühl, in einer unberührten, gleichsam außerirdischen Welt zu leben. Die meisten Forscher hätten ihr Lager auf der Eisfläche aufgeschlagen, nur wenige seien auf der »Polarstern« geblieben.

Angesprochen auf die Gefahr durch Eisbären, räumt Rex ein: »Der Eisbär sieht den Menschen als Nahrungsmittel an.« Alle zwei Stunden habe der Posten gewechselt, der mit geladenem Gewehr das Forschungslager bewachte und nach Bären Ausschau hielt, die unvermittelt aus dem Dunkeln auftauchen. »Eisbären gleiten elegant wie Katzen über das Eis«, berichtet der Forscher. Die Tiere hätten an Ausrüstungen und Anlagen mitunter stark beschädigt, doch sei kein Mensch zu Schaden gekommen. Zudem habe sich eine Serie bestätigt: »Deutsche Polarforscher haben noch nie einen Eisbären erschossen.«

Der vielseitige Erfolg der Expedition sei »sehr handlungsmotivierend«, versichert Rex. »Noch haben wir es in der Hand, das arktische Eis zu retten.« Die gute Nachricht sei, dass derzeit ein »gesunder Puffer« das Schmelzen des Eises im Sommer bedeutend ausgleichen könne. Die Stimmung unter den vielen Teilnehmern aus 20 Staaten sei ausgezeichnet gewesen, man habe auch von potenziellem »Polarforscher-Nachwuchs« in deren Reihen gehört.

Die Arktis ist »die Wetterküche für Wetter und Klima in Europa, Nordamerika und Asien, die Gegenden, in denen ein Großteil der Weltbevölkerung lebt«, verdeutlicht Markus Rex die Bedeutung der Entwicklung in dieser Region in seinem 2020 erschienenen Buch »Eingefroren am Nordpol«. Der Temperaturkontrast zwischen der kalten Arktis und den wärmeren mittleren Breiten treibe das Hauptwindsystem der Nordhemisphäre an und bestimme zu einem erheblichen Teil unser Wetter. Das Ergebnis des veränderten Temperaturkontrasts seien »vermehrte und intensivere Extremwetterlagen in unseren Breiten«.

»Es muss gelingen, die Erderwärmung bei unter 1,5 Grad zu stabilisieren«, mahnt daher der Professor. »Sonst schicken wir unsere Kinder und Enkel ins Minenfeld.« Er sei »ein großer Pragmatiker«, fügt er hinzu. »Ich will das Eis retten.«

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