Werbung

Mythos Antarktis

Eine Reise auf den weißen Kontinent umweht noch immer ein Hauch des ganz großen Abenteuers

  • Marc Vorsatz
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Schreck sitzt. Wie aus dem Nichts taucht der Seeleopard direkt neben dem Zodiac auf und präsentiert alsdann sein komplettes Waffenarsenal: Zwei Reihen messerscharfer Zähne, verankert in den Respekt einflößenden Fängen eines stromlinienförmigen Schädels. Nein, dieser Bursche ist mit Sicherheit kein Veganer, jeder Schäferhund würde vor Neid erblassen. Mit seinen großen dunklen Augen fixiert er aufmerksam diese merkwürdigen Eindringlinge in seinem Revier.

»Bösewicht der Antarktis«

Nach einer zweisekündigen Schockstarre startet die unvermeidliche Fotoorgie im Gummiboot. Eine Handvoll euphorisierter Hobbyfotografen stürzt sich mit Kamera und Handy auf ihr geschmeidiges Sechs-Zentner-Model. Von Angesicht zu Angesicht, nur eine Armlänge entfernt. Der »Bösewicht der Antarktis«, wie der Seeleopard oft auch scherzhaft genannt wird, spielt bereitwillig mit und versucht sogleich, das Schlauchboot zu perforieren. »Keine Angst. Zu rund die Angriffsflächen, zu flexibel und stark das Material«, versucht Expeditionsleiter Lars Maltha Rasmussen zu beruhigen. »Normalerweise jedenfalls«, lacht der dänische Biologe, der seit Jahren Gäste aus aller Welt durch die frostige Traumwelt führt. »Außerdem will der Seeleopard eh nur spielen, ist neugierig. Die Kraft spart sich der Topräuber lieber für die Jagd auf andere Robben oder Pinguine auf.« Wo immer der notorische Einzelgänger seine Bahnen zieht, geht so ziemlich jeder auf Distanz. Und zwar seit eh und je.

Shackletons »Endurance«-Expedition

So auch der gebürtige Aachener Thomas Hans Orde-Lees, Mitglied von Sir Ernest Henry Shackletons legendärer »Endurance«- Expedition von 1914 bis 1917, als bei einer Meereiserkundung eine Leopardenrobbe vor ihm auftauchte. Auf Skiern konnte er den Angreifer mit den schlangenartigen Bewegungen auf dem Eis auf Abstand halten. Plötzlich jedoch tauchte die Robbe zwischen zwei Schollen ab und vor Orde-Lees wieder auf. Es wurde bedenklich eng, sein Begleiter Frank Wild musste das Raubtier erschießen. Für die Expeditionshunde gab es abends eine Extraportion Fleisch.

Begegnungen dieser Art seien heute, gut ein Jahrhundert später, praktisch unmöglich, erklärt Rasmussen die strengen internationalen Umwelt- und Sicherheitsstandards für den 7. Kontinent. Zum einen dürfen keine Touristen irgendwelche Eisschollen auf Skiern erkunden, zum anderen checken Guides vor Landgängen die Lage. Im Zweifelsfall wird einfach eine andere Bucht angefahren.

Was heute mit modernster Technik machbar ist, war zu Shackletons Zeiten oft unmöglich. Seine »Endurance«, die 1915 vom Packeis im Weddellmeer zermalmt wurde, war ein Segelschiff.

Vor 100 Jahren, am 5. Januar 1922, schlug auch für den »Boss«, den charismatischen Exzentriker und großen Polarforscher das letzte Stündlein. In Südgeorgien erlag er einem Herzinfarkt. Shackleton wurde nur 47 Jahre alt. Sein größter Feind sollen weder antarktische Stürme noch meterhohes Packeis, sondern »König Alkohol« gewesen sein. Erst vor einigen Jahren stieß man bei der Sanierung einer Schutzhütte des Abenteurers unter den Bodenbrettern auf fünf tiefgefrorene Kisten Whisky und Brandy. Der Besuch seines Grabes ist heute Standard bei jeder Südgeorgien-Anlandung.

Ganz ohne Schreck und Überraschungen ging es ein paar Tage zuvor im argentinischen Ushuaia an Bord. Nichtsdestotrotz mit gehörigem Respekt. Nicht unbedingt vor dem Ziel selbst. Nein, aber vor der 800 Kilometer langen Drake-Passage, der gefürchteten Meeresstraße zwischen Kap Hoorn in Südamerika und der Antarktischen Halbinsel, wo die eiskalten Wassermassen des Südatlantiks mit denen des Südpazifiks tosend um die Vorherrschaft ringen.

Sie gilt als das raueste und gefährlichste Gewässer weltweit, ist Grab von 15 000 Seeleuten. Tosende Stürme mit haushohen, grauschwarzen Brechern lehrten selbst kühnste Seefahrer das Fürchten. Und gut betuchte Touristen auf den großen modernen Expeditionsschiffen von heute die Seekrankheit.

Berauschen an Farbe und Form

In den ersten 24 Stunden zeigt sich die Drake-Passage jedoch ziemlich moderat. Nur sechs, sieben Meter hohe Wellenberge bringen das Schiff in ein behäbiges Rollen, das jedoch immer noch etwa ein Viertel der Gäste ans Bett fesselt. Im Bordrestaurant bleiben jedenfalls auffallend viele Stühle leer.

Aber dann - wie von Zauberhand - legen sich Wind und Wellen und der Horizont verwandelt sich in eine Bühne. Wird ein Rausch an Farbe und Form, wie es ihn so wohl nur in den polaren Regionen unserer Erde zu bestaunen gibt. Zwischen schwarzblauen Regenwolken und dem stahlgrauen Meer brennt der Himmel lichterloh. Gottesfürchtige Seefahrer glaubten von jeher, dort den Eingang zur Hölle ausgemacht zu haben. Andere sahen Terra incognita, das unbekannte Reich, in dem Riesenkraken ganze Boote mit Mann und Maus in finstere Tiefen rissen.

Auf dem südlichsten Postamt der Welt

Am nächsten Morgen ziehen die ersten gewaltigen Eisberge links und rechts der Reling vorbei. Mit welch einer Urkraft der Elemente! Wie winzig doch das Schiff jetzt wirkt ... Die kalten Riesen schimmern majestätisch in einem geheimnisvollen Weißblau unter einer tiefen bedrückenden Wolkendecke, die sich wie ein schweres Tuch auf sie gelegt zu haben scheint. Eine Schule Buckelwale zieht derweil unbekümmert gen Süden und die ersten Eselspinguine eskortieren freudig synchron das Schiff. Dann endlich die ersehnte Durchsage: Land in Sicht!

Die erste Anlandung auf dem Kontinent der Extreme ist selbst für weit gereiste Weltenbürger ein erhabener Moment. Nicht nur, weil neugierige Pinguine herangewatschelt kommen und sogar manchmal kuscheln wollen. Angst haben sie keine vor den Menschen. Gefahr droht ihnen nämlich lediglich im Wasser, und Wärme bedeutet Überleben auf dem kältesten und stürmischsten Erdteil. Besonders an der ehemaligen britischen Forschungsstation Port Lockroy, die heute das südlichste Museum, den südlichsten Shop und das südlichste Postamt der Welt beherbergt, haben es die Pinguine auf Wärme spendende Besucher abgesehen. Zur Freude der Touristen, zum Ärger der Guides, die das vergeblich zu verhindern suchen.

Minus 98,6 Grad

Obwohl die Antarktis selbst im Sommer zu 99 Prozent von Eis bedeckt wird, das stellenweise bis zu 5000 Meter misst, ist sie die mit Abstand größte Wüste der Welt - mit einer Fläche fast 40-mal so groß wie Deutschland. Das Klima ist arid, sprich knochentrocken, lebensfeindlich. Die Temperaturen fielen im Sommer 2018 auf minus 98,6 Grad, ein neuer Kälterekord weltweit.

Umso erstaunlicher mag es auf den ersten Blick scheinen, dass es in den küstennahen Gefilden des Südpolarmeeres vor Leben nur so wimmelt: von winzigen Algen, Plankton und wenige Zentimeter großem Krill über Antarktisfische, Albatrosse, Pinguine, Delfine, Robben, Orcas bis hin zu den Riesen der Meere, den Blauwalen.

Auf ein paar Schwimmstöße darf sich auch der Mensch zu ihnen gesellen. Sicherheitshalber fest angeleint beim sogenannten Polar Plunge. Wassertemperatur frostige 1,2 Grad - unter null! Kostet Überwindung, bleibt im Gedächtnis.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal