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  • Corona-Proteste in Berlin

Impftipps vom Gegenprotest

Mehrere 1000 Teilnehmende bei verschwörungsideologischen Aufmärschen in Berlin

  • Mischa Pfisterer
  • Lesedauer: 5 Min.
In ganz Berlin gab es am Montag zahlreiche Aktionen gegen sogenannte Spaziergänge wie hier in Pankow von den »Omas gegen rechts«.
In ganz Berlin gab es am Montag zahlreiche Aktionen gegen sogenannte Spaziergänge wie hier in Pankow von den »Omas gegen rechts«.

In Berlin-Neukölln haben sich Corona-Maßnahmen- und Impfgegner*innen - wie an etlichen anderen Orten berlinweit - wenig konspirativ für ihren notorischen Montagszirkus verabredet. »Lasst euch impfen! Seht es als Chance!«, ruft ein Mann über den Platz vor dem Rathaus Neukölln einer kleinen Gruppe »Aber-wir-sind-doch-nur-besorgte-Bürger« zu. Die sich wenig beeindruckt zeigt. Auf dem Platz findet jedoch bereits eine Gegenkundgebung statt: Die vernünftigen Leute waren in Neukölln schneller, ebenso wie in Pankow, Köpenick, Marzahn-Hellersdorf.

Das Kollektiv Geradedenken organisiert den Protest vor dem Rathaus Neukölln. Gegründet hat man sich im vergangenen Frühjahr, »weil sich von Partyveranstaltenden einige Menschen in die Schwurbelrichtung bewegt haben. Dadurch hat sich eine Gegenbewegung entwickelt, die aus der Feierszene kommt«, erzählt Marco vom Kollektiv. Das Motto: Tanzen ja, aber mit Maske und Abstand. Und jenseits des Feierns: pro Wissenschaft, gegen Populismus, rechte Politik und Verschwörungsmythen.

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Kurz nach 17.30 Uhr versammelt sich die Gruppe, eine Bassbox wird aufgestellt, Plakate und Transparente werden verteilt. Demonstrierende treffen ein, irgendwann sind es um die 50 Menschen. Es gibt Redebeiträge. Gefordert wird ein »Spazierstopp«, ein Ende der »pseudobürgerlichen Aufmärsche«.

»Gerade hat sich auch ein Bündnis ›Spazierstopp‹ gegründet, an dem sich mehrere Initiativen beteiligen«, sagt Marco zu »nd«. »Damit wollen wir die Gegenproteste stärken - am liebsten bundesweit.«

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Was die Teilnehmer*innen der verschwörungsideologischen Versammlung nicht davon abhält, durch die Straßen zu laufen - in Neukölln auffallend planlos, auffallend trottelig planlos. Mann zu Frau 1: »Ich sag, wo es langgeht! Hier lang!« Frau 2 zu Frau 3 empört: »Ich lass mir von keinem mehr sagen, wo ich langlaufen soll!« Mann und Frau 1 weiter auf der Sonnenallee. Frau 2 und Frau 3 machen kehrt.

Irgendwann zerfasert der ganze Quatsch ein paar Straßen weiter. In Neukölln bleibt es friedlich. In Pankow, Marzahn-Hellersdorf und Köpenick berichten Beobachter*innen von Pöbeleien, Bedrohungen und aggressiver Stimmung - bekannte und organisierte Neonazis inklusive. Die Polizei agiert überall äußerst zurückhaltend und lässt die Aufmärsche zu.

»Es ist schon frustrierend: Da kommen Leute, die sich noch nie mit politischer Arbeit auseinandergesetzt haben, und vereinnahmen Begriffe wie Freiheit«, beklagt Max vom Kollektiv. »Und Initiativen, die seit Jahren Arbeit gegen rechts machen und sich gegen eine Spaltung der Gesellschaft einsetzen, werden als systemtreue Schlafschafe bezeichnet«, ergänzt Marco. »Das Perverse ist: Viele nutzen sogar linke Slogans und Begriffe. Das tut auch weh. Es ist jetzt unsere Aufgabe den Leuten klarzumachen: Das sind unsere Worte.«

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Auch in Pankow versammelten sich Anwohner*innen zu einer Kundgebung vor dem Rathaus - organisiert von den »Omas gegen rechts« und der Pankower Gruppe der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA). »Eintreten für Gemeinsinn und den Schutz unserer demokratischen Werte« wollen die Demonstrierenden der »Initiative Gethsemanekiez« vor der Gethsemanekirche in Prenzlauer Berg. In Treptow-Köpenick versammeln sich Menschen zu einer Gedenkkundgebung unter dem Motto »Der laute Ruf der stillen Mehrheit«. Mit genauso vielen Kerzen wird an die 246 Menschen erinnert, die seit März 2020 im Bezirk Covid-19 erlagen.

»Wir möchten mit unserer Kundgebung die große Mehrheit, die sich solidarisch verhält, sichtbar machen und zugleich an die Menschen erinnern, die während der Pandemie gestorben sind«, sagt SPD-Abgeordnetenhausmitglied Lars Düsterhöft, Sprecher des Bündnisses für Demokratie und Toleranz. »Es ist wichtig, ein Zeichen gegen die ›Corona-Spaziergänge‹ zu setzen. Wir sind mehr - und wir setzen auf Solidarität statt auf Egoismus«, ergänzt die Co-Sprecherin des Bündnisses und Linke-Bezirksverordnete Karin Kant. Auch Bezirksbürgermeister Oliver Igel (SPD) meldet sich zu Wort: »Wir müssen in der allgemeinen Debatte über die Corona-Maßnahmen wieder diejenigen in den Mittelpunkt rücken, die betroffen sind: Die Menschen, die an einer Corona-Infektion gestorben sind, und diejenigen, die lange an den Folgen leiden.«

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Beobachter*innen der Gruppe Stadtrandaktion haben am Montagabend etwa 4000 verschwörungsideologische Demonstrierende in ganz Berlin gezählt. »Die Aggressivität ist gestiegen«, heißt es in einem Statement. Bei vielen Demonstrationen, an denen auch wieder einige Neonazis teilgenommen haben sollen, sei teilweise »kaum Polizei vor Ort« gewesen. Laut Berliner Polizei sei es zunächst nicht »zu größeren Störungen oder Zusammenstößen« gekommen.

Geradedenken wird auch kommende Woche wieder vor dem Rathaus Neukölln sein. Hoffnungen, die Menschen noch zu erreichen, hat das Kollektiv nicht. »Wer jetzt, nach zwei Jahren Corona-Pandemie, noch auf die Straße geht, ist irgendwie verloren. Da wissen wir auch nicht, wie wir die Leute zurückkriegen sollen, vielleicht gar nicht«, sagt Max am Ende der Kundgebung.

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