Gorleben ist nicht Geschichte

Vor 40 Jahren begann der Bau des Atommüllzwischenlagers

  • Reimar Paul
  • Lesedauer: 4 Min.
Mit manchen Autos gelingt Protest einfach stilvoller.
Mit manchen Autos gelingt Protest einfach stilvoller.

»Kartoffelscheune«, so nennen die Atomkraftgegner*innen die Betonhalle im Gorlebener Wald, zwei Kilometer hinter dem Dorf Gorleben gelegen. Doch in dem wuchtigen, fensterlosen Bau wird kein Gemüse gelagert, sondern hoch radioaktiver Atommüll. 113 Castor-Behälter warten auf den Weitertransport ihres strahlenden Inhalts in ein Endlager, das noch nicht mal gefunden ist.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Vor 40 Jahren, am 26. Januar 1982, begann der Bau der »Kartoffelscheune« – des Gorlebener Atommüllzwischenlagers. Unter Polizeischutz fuhren am Morgen jenes Tages die ersten Lkw auf das mit Stacheldrahtrollen umzäunte zehn Hektar große Baugelände.
Der Lüchow-Dannenberger Kreistag, die Samtgemeinde Gartow und die Gemeinde Gorleben hatten den Bau im Sommer 1981 genehmigt. Die Zustimmung brachte den Kommunen eine »Infrastrukturhilfe« in Millionenhöhe: Kurz nach der Umzäunung des Geländes erhielten sie eine Zuwendung von fünf Millionen Mark, anschließend jährlich eine Million. Zwar hatten der Flächennutzungs- und der Bebauungsplan in den Gemeinden ausgelegen und insgesamt knapp 2000 Einwände von Bürger*innen nach sich gezogen. Diese blieben jedoch unberücksichtigt.

AKW-Gegner*innen aus dem Wendland reagierten einen Tag nach Baubeginn – und ihnen gelang eine Überraschung. Bewaffnet mit Transparenten und bunten Fahnen, drangen rund 100 Frauen und Männer auf das »Niemandsland« zwischen der Bundesrepublik und der DDR vor und ließen sich auf einer Wiese direkt vor dem Grenzzaun nieder. Das besetzte Stück Land gehörte zur DDR, für den Bundesgrenzschutz war es daher verbotenes Gelände. Polizei, Diplomat*innen und Politiker*innen aus Ost- und Westdeutschland gerieten in veritable Panik. Der Coup brachte Gorleben in die Weltnachrichten.

Der Bau des Zwischenlagers ging aber weiter, massenhafte Proteste konnten die Arbeiten nur kurzzeitig stoppen. Am 4. September 1982 folgten 10 000 Menschen dem Aufruf zum Musikfestival »Tanz auf dem Vulkan«. Im Wald hinter der Baustelle kam es zu stundenlangen Auseinandersetzungen zwischen Demonstrant*innen und der Polizei. Durch den Einsatz neuer Hochdruckwasserwerfer wurden mehrere Menschen schwer verletzt, harte Polizeiknüppel verursachten Knochenbrüche und Prellungen.

Ende 1983 war das Zwischenlager fertig. Es ist 189 Meter lang, 38 Meter breit und 22 Meter hoch und hat 420 Stellplätze für Castor-Behälter. »Der Name ist damals schnell entstanden«, erinnert sich Wolfgang Ehmke von der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg. »Die ›Kartoffelscheune‹ heißt so, weil die Halle lediglich Schutz vor schlechtem Wetter bietet.« Nur die Castor-Behälter selbst sollten den Schutz vor der Strahlung oder vor Flugzeugabstürzen und Terroranschlägen garantieren. Die Wände seien zum Teil dünner als 50 Zentimeter.

Im April 1995 rollte der erste Castor-Transport nach Gorleben und traf auf heftigen Widerstand. Rund 15 000 Einsatzkräfte von Polizei und Bundesgrenzschutz sicherten die Fuhre, Schlagstöcke und Wasserwerfer kamen zum Einsatz – Szenen, die sich so oder ähnlich bei allen späteren Transporten wiederholen sollten.

Der 13. und letzte Castor-Transport ins Wendland im November 2011 brach alle Rekorde. 126 Stunden war der Zug von der französischen Wiederaufarbeitungsanlage La Hague nach Gorleben unterwegs, so lange wie nie einer zuvor. Mehr als 100 Blockaden mit Tausenden Aktivisten verzögerten an der gesamten Strecke die Weiterfahrt. Auch die Kosten markierten einen neuen Höhepunkt. Der damalige niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann (CDU) veranschlagte die Belastung für die Landeskasse mit etwa 33,5 Millionen Euro.

Der Atommüll im Zwischenlager sollte, so die Pläne, eines Tages in andere Behälter gepackt und in das ein paar Hundert Meter entfernte Endlager verfrachtet werden. Der unterirdische Gorlebener Salzstock wurde seit 1979 als einziger Standort auf seine Eignung als dauerhafte Lagerstätte untersucht. Unter dem Deckmantel der Erkundung entstand ein fast fertiges Endlager. Geologisch umstritten und politisch umkämpft, flog Gorleben erst im September 2021 aus dem vier Jahre zuvor neu gestarteten Suchverfahren. Es war ein großer Erfolg für die Anti-Atom-Bewegung.

Auch der Rückbau des Erkundungsbergwerks und die Zuschüttung der Schächte sind inzwischen beschlossene Sache. Derweil strahlen die 113 Castoren mit heißem Atomschrott immer noch im Zwischenlager vor sich hin. Dessen Betriebsgenehmigung ist bis zum 31. Dezember 2034 befristet. Ein Endlager wird bis dahin nicht betriebsbereit sein. Die Zwischenlagerung der Castor-Behälter in Gorleben wird also über 2034 hinaus andauern. Die Atomkraftgegner*innen wollen wachsam bleiben.

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