36 Fußballfelder für den ganzen Salat

Senat und Zivilgesellschaft arbeiten an einer Ernährungsstrategie für die Hauptstadt

  • Philip Blees
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Rasen vor dem Kanzleramt als Kartoffelacker – die Aktion von Klimaschützer*innen mag symbolisch sein, eine neue Ernährungsstrategie für Metropolen braucht es dennoch.
Der Rasen vor dem Kanzleramt als Kartoffelacker – die Aktion von Klimaschützer*innen mag symbolisch sein, eine neue Ernährungsstrategie für Metropolen braucht es dennoch.

Das geschwungene gelbe M der amerikanischen Fastfood-Kette spiegelt sich im Schaufenster des modernen Ladenlokals in der Charlottenburger Mall. Dort, im Lernlabor der Berlin University Alliance suchen Expert*innen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft in einer Debatte eine Antwort auf die globalisierte Lebensmittelindustrie mit ihren großen Konzernen: »Die Ernährungswende ist notwendig«, fasst Annette Jansen vom Berliner Ernährungsrat zusammen. Die Diskussion um eine nachhaltige Ernährungsstrategie in der Hauptstadt ist im vollen Gange und kann zu optimistischen Prognosen wie dieser führen: Berlin könnte das Zentrum der Ernährungswende werden.

Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg, denn die Versorgungsstruktur ist die einer typischen Großstadt: »Berlin hat Lebensmittel für drei Tage«, analysiert Jansen. Die Lieferung neuer Ware erfolge beinah just-in-time und hänge folglich stark von globalen Lieferketten ab. Zu diesem Thema hat der Ernährungsrat Ende des vergangenen Jahres unter anderem das Buch »Berlin isst anders« veröffentlicht. Darin wird dargelegt, dass die Lebensmittelversorgung der Hauptstadt hauptsächlich von großen Konzernen dominiert wird und einer beträchtlichen Konzentration auf einige Ketten und Marken unterliegt. Das heißt auch, dass der Umsatz mit dem Lebensmittelgeschäft kaum in der Stadt bleibt. Doch nicht nur wegen der monopolartigen Strukturen auf dem Lebensmittelmarkt wird in Berlin wenig Profit mit der Ernährung gemacht. Auch die dichte Besiedelung verhindert eine diesbezügliche Nutzung der Böden. Nur rund 1800 Hektar der Fläche werden durch Landwirtschaft genutzt, gibt das Amt für Statistik an. Das sind ungefähr zwei Prozent der gesamten Stadtfläche. Es existieren - Stand 2020 - nur 47 Landwirtschaftsbetriebe mit 233 Arbeitskräften, die Ackerland bestellen, 848 Kühe melken und 601 Schafe scheren.

Das macht abhängig vom direkten Umland, möchte man meinen. In Brandenburg gibt es 500-mal mehr Vieh und allein rund 750 000 Schweine. Doch der Großteil dieser Schweine wird ans berüchtigte Tönnies-Unternehmen aus NRW geliefert, kritisiert Jansen bei der Buchvorstellung. Mit regionaler Versorgung, wie von vielen Supermarktketten beworben, hat das wenig zu tun. Dabei stellt der Transport der Lebensmittel einen wichtigen Faktor in der klimaschädlichen Bilanz der Ernährung dar. Fast ein Drittel des ausgestoßenen CO2 steht in Verbindung mit der Lebensmittelindustrie.

Die Lieferwege zu verkürzen und gesunde Lebensmittel sozial herzustellen, war auch das Ziel von Grit Bürgow, Wissenschaftlerin von der TU Berlin. Sie betreut das Projekt Roof Water Farm des Instituts für Stadt- und Regionalplanung. Dort wird erforscht, wie Abwasser von Gebäuden aufgewertet und für die Produktion von Lebensmitteln vor Ort genutzt werden kann. »Goldwasser« nennt Bürgow ihren urbanen Flüssigdünger.

Auf den Dächern eines Plattenbaus im Bezirk Marzahn-Hellersdorf hat Roof Water Farm bereits ein genossenschaftliches Beet aufgebaut. Sie konnten mit dem Dachanbau sogar mehr als den Bedarf an Blattgemüse im Haus decken. Das zeigt: »Es ist nicht utopisch«, so Bürgow. Regionaler Anbau ist auch in der Stadt machbar. Das Team der Ingenieurin hat ausgerechnet, dass mit ihrer Technik der gesamte städtische Bedarf auf 36 Hektar produziert werden könnte. Das hieße: 36 Berliner Fußballfelder für 100 Prozent des Berliner Salats.

Bereits seit 2017 möchte der Senat für Verbraucherschutz eine Ernährungsstrategie umsetzen. Der damals zuständige Senator Dirk Behrendt (Grüne) führte Kick-off-Veranstaltungen durch, sprach mit Expert*innen und der Zivilgesellschaft. 128 000 Euro gab der Senat nach »nd«-Informationen bis Ende 2021 für zwei stadtpolitische Beratungsgesellschaften zum Thema aus. Ziel war damals schon das Ernährungssystem nachhaltig, fairer und gesünder zu gestalten. »Dieser Prozess wird selbstverständlich weitergeführt«, sagt Matthias Borowski, Sprecher der Berliner Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz, zu »nd«.

Seine Umweltsenatorin Bettina Jarasch (Grüne) ist in der neuen Legislaturperiode auch für den Verbraucherschutz verantwortlich. Sie möchte die Einrichtung von sogenannten Lebensmittelpunkten in den Kiezen fördern, an denen Bürger*innen nachhaltige Ernährung nähergebracht werden soll. Zudem will der Senat ein Konzept für mehr regionale Lebensmittel aus Brandenburg entwickeln. Die sozialen Aspekte sollen dabei nicht vernachlässigt werden: »Soziale Gerechtigkeit und Ökologie müssen zusammen gedacht werden, auch beim Thema Lebensmittel«, betont der Sprecher. Das funktioniere jedoch nicht durch Billigpreise auf Kosten der Bäuer*innen und der Tiere, sondern mit armutsfester Absicherung. Deswegen hat der Senat 2019 beschlossen, das Grundschulessen qualitativ zu verbessern und kostenlos anzubieten. Die Hälfte der angebotenen Ware sind Bio-Lebensmittel. »Davon profitieren alle Kinder, unabhängig vom Geldbeutel ihrer Eltern«, lobt Borowski.

Und auch das lokale Handwerk: Ökologischer ist es nämlich auch, wenn vor Ort produziert wird. Arbeitskräfte wie Metzger*innen oder Landwirt*innen sind dann auch in der Hauptstadt gefragt. »Die Lösungen sind alle da«, resümiert Annette Jansen.

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