- Berlin
- Gewerkschaften
Berlin am 1. Mai: DGB in Verteidigungsstellung
Gewerkschaftsbund will Angriffe auf den Achtstundentag abwehren und den Niedergang des Wirtschaftsstandorts stoppen
Vor dem 1. Mai hat der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) in Berlin und Brandenburg vor Angriffen auf die werktätige Bevölkerung in Deutschland und in der Region gewarnt. »Mit großer Irritation nehmen wir wahr, dass Errungenschaften wie der Achtstundentag, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, ein armutsfester Mindestlohn, Tarifverträge und das Streikrecht immer öfter und immer schärfer infrage gestellt werden«, erklärte die DGB-Bezirksvorsitzende Katja Karger am Mittwoch auf einer Pressekonferenz. Das sei insbesondere vor dem Hintergrund einer »unterirdischen« Tarifbindung von 34 Prozent der Beschäftigten, für die ein Tarifvertrag gilt, nicht hinnehmbar.
Angriff auf den Achtstundentag
Entstehungsmoment des 1. Mai als traditioneller Kampftag war die Forderung der Arbeiterbewegung nach dem Achtstundentag, zunächst in Australien, dann vehementer in den USA. Auf dem Gründungskongress der Zweiten Internationalen 1889 in Paris riefen die führenden Köpfe der vor allem europäischen Arbeiterbewegung den 1. Mai als Kampftag der Arbeiterbewegung aus. Im Folgejahr wurde der 1. Mai erstmals international mit Massendemonstrationen und Streiks begangen.
Mittlerweile steht der Achtstundentag, der im Arbeitszeitgesetz verankert ist, wieder zur Disposition. Dem Koalitionsvertrag von CDU und SPD zufolge würden sich Beschäftigte und Unternehmen mehr Flexibilität wünschen. Die Koalitionäre*innen wollen daher »die Möglichkeit einer wöchentlichen anstatt einer täglichen Höchstarbeitszeit schaffen«. Zur konkreten Ausgestaltung will die neue Regierung »einen Dialog mit den Sozialpartnern durchführen«.
»Die acht Stunden sind eine Sache der Tarifverträge«, sagt Katja Karger vom DGB. Sie deutet die Infragestellung des Achtstundentags als Angriff auf die Sozialpartnerschaft selbst. Unternehmen würden sich ohnehin schon immer weiter aus der Tarifbindung flüchten. Sie fielen immer öfter als Gesprächspartner in den Betrieben weg, wodurch die Sozialpartnerschaft unterlaufen und ausgehöhlt würde. Das öffne Räume für autoritäre Strukturen. Karger plädiert daher für ein Brandenburger Tariftreuegesetz, wie es in Berlin seit 2022 existiert. Unternehmen, die vom Land Berlin beauftragt werden, müssen ihre Beschäftigten auf Niveau des üblichen Tarifs entlohnen. Eigentlich, denn, sagt Karger, in Berlin halte ein Viertel der Auftragnehmer diese Regel nicht ein.
Angesichts der schwächelnden Wirtschaft zeigen sich vor allem die Industriegewerkschaften im DGB besorgt. Stephanie Albrecht-Suliak, Landesbezirksleiterin der IG Bergbau, Chemie, Energie, berichtete von drohenden und tatsächlichen Anlagen- und Standortschließungen. Die Zukunft der PCK-Öl-Raffinerie in Schwedt sei weiterhin offen, das neue Batteriewerk von BASF in Schwarzheide stehe still, in Guben würden hunderte Jobs in der Kunstfaserproduktion wegfallen, in Fürstenwalde werde die Reifenproduktion ganz eingestellt und, dass vom Stellenabbau bei Bayer auch Kolleg*innen vom Berliner Standort betroffen sind, sei noch nicht vom Tisch.
»Mut und Standortverbundenheit« forderte Albrecht-Suliak von den Unternehmen, ehe sich die Situation noch weiter zuspitzt. Von der neuen Koalition erwarte sie Technologieoffenheit in der Transformation und ein Absenken der Energiepreise, wie es auch im neuen Koalitionsvertrag vorgesehen ist. Ihr Kollege Markus Sievers von der IG Metall Berlin-Brandenburg-Sachsen bestätigte das Bild. Angesichts vieler Einschläge drohe ein gefährlicher Substanzabbau in der Industrie. Sievers ergänzte den Forderungskatalog: Die 500 Millionen, die der Bundestag für die Investitionen in die Infrastruktur freigegeben hat, sollten an Aufträge an regionale Unternehmen gebunden werden, so könnte etwa die schwächelnde heimische Stahlindustrie von dem Geld profitieren.
Ambivalenzen, Widersprüche, Dialektik
»Wir wünschen uns Abrüstung, die Realität ist aber eine andere. Es gibt einen zunehmenden Verteidigungsbedarf, der sich aus dem Krieg in der Ukraine aber auch durch den Rückzug der Amerikaner ergibt«, erklärte Sievers mit Blick auf die Zuwächse in der Rüstungsindustrie und Standorte, die durch die Umstellung von ziviler auf Rüstungsproduktion erhalten bleiben. Um Abrüstung zu erreichen, sieht die Beschlusslage der IG Metall eigentlich eine Konversion der Produktion von militärischen hin zu Gütern ziviler Nutzung vor. »Wenn es andere Lösungen gibt, sind wir dafür offen, so stellt es sich im Moment aber nicht dar«, erklärte Sievers. Es sei im Interesse der Beschäftigten dieser Industrie, dass diese bereitgestellten Millionen in der deutschen Rüstungsproduktion und nicht im Ausland ausgeben werden.
Auch Verdi vertritt laut der Landesbezirksleiterin Andrea Kühnemann Beschäftigte der Bundeswehr. »Von uns wird das schon kritischer gesehen«, sagte Kühnemann am Mittwoch. Aus der Sicht von Verdi bestehe ein Ungleichgewicht, es müsse »mehr in soziale Infrastruktur investiert werden, und nicht allein in den Aufwuchs bei der Bundeswehr«, sagte Kühnemann.
Die aktuelle Situation sei »mindestens ambivalent, wenn nicht gar dialektisch«, sagt Katja Karger. Die Gewerkschaften wollten Frieden, seien aber gleichzeitig dafür da, dass die Beschäftigten nicht die Zeche zahlen. »Wenn wir Arbeitsplätze verlieren, ist das ein Problem. Dieses Sowohl-als-auch, muss die Gesellschaft aushalten«, sagte Karger.
Kampf um die Demo
Unter dem Motto »Mach dich stark mit uns« ruft der DGB bundesweit zu Demonstrationen auf. Am 1. Mai als Kampf- und Feiertag stünden für den DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften gute Arbeit, gute Tarifbindung und »unsere Lebensbedingungen in Berlin und Brandenburg« im Vordergrund, sagte Katja Karger vom DGB Berlin-Brandenburg. Diesen inhaltlichen Rahmen sieht auch der Demokonsens für die Demonstration in Berlin vor.
Nationalfahnen, Nationalsymbole, Anfeindungen gegen palästinensische und jüdische Teilnehmer*innen, antisemitische Beschimpfungen und das Infragestellen des Existenzrechts Israels seien untersagt. Ordner*innen, die Verstöße gegen diese Auflagen wahrnähmen, würden Teilnehmer*innen bitten, die Demonstration zu verlassen, und im Zweifel die Polizei hinzuziehen. Die internationale Solidarität gelte aber auch an diesem Tag allen Beschäftigten, auch denen in Israel und in Palästina, sagte Karger.
Im vergangenen Jahr hatte es Kritik am Verhalten der eingesetzten Ordner gegeben. Unter Berufung auf den Demonstrationskonsens und unter Zuhilfenahme der Polizei waren einzelne pro-palästinensische Teilnehmer*innen von der Demonstration ausgeschlossen worden. Traditionell nehmen über den DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften hinaus weitere Gruppen mit ihren eigenen Forderungen teil, darunter Gruppen mit stärker ausgerichtetem antikapitalistischen, internationalistischen oder kommunistischen Profil.
Im Bezirk Berlin-Brandenburg zählt der DGB 350 000 Gewerkschaftsmitglieder. Kundgebungen und Demonstrationen finden auch in zahlreichen Orten in Brandenburg statt. Am Rande der Pressekonferenz gab der Sprecher der GEW Berlin Gökhan Akgün bekannt, dass sowohl Lehrer*innen als auch Erzieher*innen an den Berliner Schulen vom 13. bis zum 15. Mai zum Warnstreik aufgerufen seien. Die GEW nimmt damit ihr Tarifvorhaben für kleinere Klassengrößen und Entlastung der Lehrkräfte wieder auf. Sebastian Riesner, Gewerkschaftssekretär der Gewerkschaft NGG (Nahrung-Genuss-Gaststätten) berichtete von schwierigen Tarifverhandlungen bei der Berliner-Kindl-Schultheiss-Brauerei GmbH. Die Beschäftigten seien erstmals seit 20 Jahren wieder streikbereit. Im Zweifel soll es im Sommer kein Bier aus der Brauerei des Oetker-Konzerns geben.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.