Wechselstimmung in Rathenow

Ex-Sozialministerin Diana Golze (Linke) hat am 27. März die Chance, Bürgermeisterin zu werden

Auf dem Wochenmarkt am Märkischen Platz in Rathenow verteilt Berthold Fährmann Flyer von Bürgermeisterkandidatin Diana Golze (Linke). »Eine Frau wählen?« So spricht der 82-Jährige einen Passanten an. Der antwortet: »Warum nicht?« Da macht Fährmann den Wähler darauf aufmerksam, dass die Kandidatin direkt hinter ihm steht. Aber das wäre nicht notwendig gewesen. »Kenne ich doch. Meine Nachbarin. Wohnt bei mir um die Ecke.«

Diana Golze stammt aus dem uckermärkischen Angermünde, zog aber bereits Ende der 1990er Jahre zu ihrem Mann Daniel in die havelländische 25 000-Einwohner-Stadt Rathenow. Inzwischen ist der Name Diana Golze den Einwohnern der Stadt ein Begriff. Vielen muss sich die 46-Jährige nicht erst vorstellen. Immer wieder wird sie auf dem Wochenmarkt zuerst gegrüßt und hört Sätze wie »ich drücke ihnen die Daumen« und »viel Glück nächste Woche«. Bei der Bürgermeisterwahl am 6. März hatte Golze mit 25,9 Prozent der Stimmen das zweitbeste Ergebnis der sechs Kandidaten erreicht. Am 27. März entscheidet eine Stichwahl zwischen ihr und Vizebürgermeister Jörg Zietemann (parteilos), wer künftig die Geschicke der Stadt lenken wird. Mit 33 Prozent lag Zietemann in der ersten Wahlrunde vorn. Doch Golze könnte ihn in der Stichwahl überrunden.

»Sie hat die Chance, aber wir müssen kämpfen«, sagt der Bundestagsabgeordnete Christian Görke (Linke). Er ist ein alter Rathenower, war von 2014 bis 2019 brandenburgischer Finanzminister und hat Golze damals als Sozial- und Gesundheitsministerin nach Potsdam geholt. Als Ministerin ist Golze 2018 wegen eines Pharma-Skandals zurückgetreten. Persönlich traf sie keine Schuld, nur der Vorwurf, sie habe Personalkürzungen im Gesundheitsamt nicht verhindert. In Brandenburg ist Golzes Ruf dadurch beschädigt. Doch die Einwohner Rathenows scheint das nicht zu stören. Hier ist sie nach wie vor beliebt. Das ist nicht zu übersehen. Mittlerweile arbeitet die Sozialpädagogin bei der Arbeiterwohlfahrt. Als Bürgermeisterin würde sie wieder hauptberuflich Politik machen. Ehrenamtlich ist sie bereits dabei, sitzt im Kreistag und auch im Stadtparlament, wo ihr Mann Daniel Vorsitzender der Linksfraktion ist. Der kandidierte 2018 selbst als Bürgermeister, wurde erst in der Stichwahl mit 45 zu 55 Prozent von Amtsinhaber Ronald Seeger (CDU) geschlagen, der seinen Posten Ende Mai nach 20 Jahren abgibt.

In den letzten Jahren verschlechterte sich die Ausgangssituation für die Linkspartei. Bei der Bundestagswahl 2021 erhielt sie in Rathenow nur noch 10,4 Prozent. Das zeigt, wie viel die 25,9 Prozent von Diana Golze in der ersten Runde der Bürgermeisterwahl wert sind. »Wir können nicht mehr verlieren«, meint Wahlkampfhelfer Hendrik Öchsle. Bereits der Einzug in die Stichwahl war ein Erfolg. Derweil haben sich die ausgeschiedenen Kandidaten von SPD und CDU bislang weder für Golze noch für Zietemann ausgesprochen.

Golze wird jedoch demonstrativ von Menschen unterstützt, die nicht in ihrer Partei sind, die ihre Partei wahrscheinlich sonst nicht wählen, die Golze aber als Bürgermeisterin für die richtige Frau am richtigen Platz halten. So lobt in ihrer Wahlkampagne Musikschulleiterin Anke Heinsdorff: »Ich schätze Diana Golzes kluge und unprätentiöse Art.« Und Christel Schneewind, ehemalige Chefin des Haveltorkinos, verrät: »Ich wähle Diana Golze, weil ich frischen Wind nach Rathenow bringen will. Die Zeit der Bedächtigkeit ist vorbei.«

Da Mitbewerber Zietemann die rechte Hand des bisherigen Bürgermeisters Seeger ist und seit Jahrzehnten in der Stadtverwaltung arbeitet, sehen ihn viele nicht als den Mann für einen Neustart, der überfällig wäre. Rathenow mache zu wenig aus sich, erzählen Kunden auf dem Wochenmarkt. Sie bedauern das und hoffen auf Golzes Tatkraft. Golze berichtet, dass die Entwicklung seit der Bundesgartenschau im Jahr 2015 stockt. »Wir konnten den Schwung nicht mitnehmen«, bedauert sie. »Ich möchte, dass es in Rathenow aufwärtsgeht, dass die Menschen gerne hier leben.«

Baustellen gibt es viele. So wünscht sich die Kandidatin, dass die Regionalzüge wenigstens im Berufsverkehr nicht nur stündlich, sondern alle 30 Minuten fahren, und dass die Schnellzüge nach Berlin nicht durchrauschen, sondern halten. Der Bahnsteig ist lang genug dafür. Während der Bundesgartenschau stoppte der ICE tatsächlich, nun nicht mehr. Als Bürgermeisterin könnte Golze das nicht anordnen. Aber sie würde sich dafür einsetzen. Als die Deutsche Bahn zum Gespräch einlud, seien Bürgermeister und Amtsdirektoren der Region erschienen, nur Rathenow habe durch Abwesenheit geglänzt. »Welcher Eindruck entsteht dadurch? Dass Rathenow kein Interesse am 30-Minuten-Takt hat«, beklagt Golze.

Sie will auch alles tun, was in ihrer Macht steht, damit der Kreißsaal des Krankenhauses wieder rund um die Uhr geöffnet ist. Geplante Geburten per Kaiserschnitt sind dort zwar möglich, aber wegen Personalmangels gibt es keinen Schichtbetrieb mehr. Wenn eine Schwangere die Wehen bekommt, muss sie nach Nauen, Brandenburg/Havel oder Stendal. Allein die Fahrt nach Brandenburg dauert 30 Minuten. »Das hätte ich nicht geschafft«, erinnert sich Golze an die Geburt ihres Sohnes im Jahr 2008, als ihr mitten in der Nacht die Fruchtblase platzte. In der Rathenower Klinik hatte die Frauenärztin nicht einmal mehr die Zeit, ihren Kittel zu holen. Das Baby kam bereits.

Einer Hebamme, die nach Rathenow ziehen möchte, würde Golze bei der Wohnungssuche helfen, ihr bei Bedarf Kitaplätze organisieren, so wie sie es auch tun würde, um dringend benötigte Ärzte anzulocken. Investitionen in Kitas und Schulen, mehr Sicherheit für Radfahrer im Straßenverkehr, bezahlbarer Wohnraum für große und kleine Familien, die Schaffung einer innerstädtischen Badestelle - dies alles sind Punkte auf einer Listen mit Dingen, die Diana Golze als dringlich ansieht. »Investoren müssen Chefsache sein, erst über Chancen reden und nicht über Hinderungsgründe«, hat sie noch notiert. »Rathenow hat die Wahl, die Stichwahl«, sagt die 46-Jährige. »Weiter-so oder Frauenpower im Rathaus.«

Konkurrent Jörg Zietemann steht auf dem Wochenmarkt nur wenige Schritte weiter und wirbt ebenfalls um Stimmen. »Parteilos, authentisch, kompetent«, mit diesen Attributen will sich der 52-Jährige schmücken. Als Bürgermeister werde er »die Amtsgeschäfte neutral und ohne Parteizugehörigkeit, zum Wohle der Stadt und ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger ausüben«. Welche Partei er beispielsweise bei der Bundestagswahl 2021 gewählt hat, das möchte Zietemann nicht verraten. Nur so viel stellt er sicherheitshalber klar: Die AfD habe er nicht angekreuzt.

An seiner Seite hat er Hans-Jürgen Lünser, den ersten Nachwende-Bürgermeister von Rathenow. Zwölf Jahre war Lünser Rathauschef, bis er sich mit einem knappen Rückstand von 47 Stimmen dem jetzigen CDU-Bürgermeister Seeger geschlagen geben musste. Die Wählergruppe »Pro Rathenow«, die Lünser repräsentierte, hat sich mittlerweile aufgelöst, weil viele Mitglieder in die Jahre gekommen sind. Lünser selbst ist nun 78. Er hat einst die Urkunde unterschrieben, als Zietemann Beamter wurde. Jetzt möchte Lünser ihn als Bürgermeister haben. Damit ist er nicht allein. Am Markt kommt ein Mann vorbei, der seine Wahlbenachrichtigung verschusselt hat. Er lässt sich von Zietemann erklären, dass es genüge, im Wahllokal den Personalausweis vorzuzeigen. Der Mann dankt erfreut für den Tipp und verabschiedet sich mit: »Meine Stimme haben sie!«

Aber nebenan läuft es für Diana Golze augenscheinlich viel besser. Schon nach einer halben Stunde sind die mitgebrachten fast 200 Flyer vergriffen. Innerhalb einer vollen Stunde schimpft bei ihr nur eine einzige Frau. »Sie brauchen gar nicht erst kommen«, wehrt diese Frau jeden Versuch ab, ihr näherzutreten. »Die Roten hatten wir lange genug.« Doch dagegen stehen Dutzende andere, die Diana Golze den Rücken stärken und ihr viel Erfolg wünschen.

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