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Endlich auch mal Vorreiter

Die Bundesregierung will mit einem Selbstbestimmungsgesetz die Rechte queerer Menschen stärken

Jeder Mensch hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, heißt es im Grundgesetz. Tatsächlich aber müsste man ein »fast« vor den Satz setzen. Denn insbesondere trans- und intergeschlechtlichen Menschen wird immer wieder ihre Identität abgesprochen und auch die Gesetzgebung sichert bislang keine vollständige Selbstbestimmung für trans Personen. Solche Missstände werden von queeren Organisationen und Aktivist*innen das ganze Jahr über angeprangert. Am Tag für die Sichtbarkeit von trans Personen, der jährlich am 31. März stattfindet, bekommen sie noch mal größere Aufmerksamkeit.

»Man kann schon festhalten, dass Deutschland bislang nie Vorreiter in Sachen Rechte queerer Menschen war«, bilanziert Markus Ulrich gegenüber »nd«. Doch die diesbezüglichen Pläne der Ampel-Regierung bewertet der Sprecher des Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland (LSVD) positiv: »Wir sehen – und begrüßen, dass der Koalitionsvertrag sehr ausführliche und konkrete queerpolitische Vorhaben beinhaltet.« Eines davon ist das Selbstbestimmungsgesetz. Damit könne Deutschland tatsächlich noch eine Vorreiterrolle spielen, was die Anerkennung der Rechte von trans- und intergeschlechtlichen Menschen angeht, so Ulrich.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Die Bundesregierung plant, das derzeit gültige Transsexuellengesetz (TSG) durch ein Selbstbestimmungsgesetz zu ersetzen. Es soll transgeschlechtlichen Menschen ermöglichen, ihren Geschlechtseintrag im Personenstand künftig beim Standesamt ändern zu lassen. Das wäre ein enormer Abbau von Hürden auf dem Weg zur Anerkennung der eigenen Identität. Denn bislang sind dafür ein Gerichtsverfahren sowie zwei psychiatrische Gutachten notwendig. Eine Prozedur, die nicht nur teuer ist, sondern seit vielen Jahren als diskriminierend und demütigend kritisiert wird. Statt fremden Menschen gegenüber »beweisen« zu müssen, welche Geschlechtsidentität man hat, soll künftig eine Selbstauskunft ausreichen.

Laut dem Queer-Beauftragten der Bundesregierung, Sven Lehmann (Grüne), soll das TSG noch bis Ende des Jahres abgeschafft und ersetzt werden. Dafür würden die Bundesministerien für Justiz und für Familie bis zum Sommer Eckpunkte für ein Selbstbestimmungsgesetz vorlegen. Wie Lehmann gegenüber der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« erklärte, sollen Jugendliche ab 14 Jahren eine Personenstandsänderung beantragen können, auch ohne Einverständnis der Eltern. »Jugendliche, die seit Jahren wissen, dass das ihnen zugewiesene Geschlecht nicht ihrer Identität entspricht, müssen eine Handhabe bekommen, dass sie nicht gegen ihren Willen von der Schule oder im Sportverein mit dem falschen Namen angesprochen werden«, sagte Lehmann. Doch ob dieser Passus es tatsächlich ins Gesetz schafft, wird sich zeigen.

Neben der vereinfachten Personenstandsänderung sind zudem die Stärkung der Aufklärungs- und Beratungsangebote sowie ein erweitertes Offenbarungsverbot geplant. Bereits jetzt darf der abgelegte Name einer Person nach rechtskräftiger Änderung nicht ohne dessen Zustimmung offenbart oder ausgeforscht werden. Zusätzlich sollen die Kosten geschlechtsangleichender Behandlungen von den gesetzlichen Krankenversicherungen übernommen werden, heißt es im Koalitionsvertrag. Für trans und inter Personen, die aufgrund früherer Gesetzgebung von Körperverletzungen oder Zwangsscheidungen betroffen sind, will die Ampel-Regierung einen Entschädigungsfonds einrichten.
Doch es gibt auch Kritik an den Plänen für ein Selbstbestimmungsgesetz. Insbesondere Alice Schwarzer, Herausgeberin der Zeitschrift »Emma«, tritt in jüngster Zeit immer wieder als laute Skeptikerin beim Thema Rechte transgeschlechtlicher Menschen auf. So sprach Schwarzer gegenüber der dpa von einem vermeintlichen Massenphänomen und von einer »Trans-Mode«. Zahlreiche junge Mädchen würden plötzlich ihr Geschlecht wechseln wollen, so Schwarzer.

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Dem widersprechen Zahlen und Erfahrungen, die der LSVD gesammelt hat. In seiner Broschüre »Soll Geschlecht jetzt abgeschafft werden?« beantwortet der Verband zwölf Fragen zu Transgeschlechtlichkeit. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Gesetzgebung zur Änderung des Geschlechtseintrags mehrfach geändert, auch, weil Teile des TSG für verfassungswidrig erklärt wurden. »Was sich in all den Jahren jedoch nicht geändert hat, ist der Anteil der Personen, die eine Änderung des Namens oder Geschlechtseintrags wieder rückgängig machen«, so der LSVD. Dieser Anteil liege konstant bei etwa einem Prozent. Und auch in anderen Ländern mit Selbstbestimmungsgesetz sei kein Anstieg willkürlicher mehrmaliger Änderungen zu beobachten. »Das zeigt: Trans* Personen ändern den Geschlechtseintrag nicht ›aus einer Schnapslaune heraus‹. Auch bei einer selbstbestimmten Regelung treffen trans* Personen eine bewusste, ernsthafte und wohlüberlegte Entscheidung«, so der Verband.

Vielmehr gab es schon immer vielfältige geschlechtliche Identitäten, die jedoch teils unterdrückt, oft ignoriert wurden. Auch deswegen sind Tage wie der jährliche Transgender Day of Visibility bedeutend. Sie tragen zur Sichtbarkeit, Anerkennung und Akzeptanz von trans Personen bei.

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