Tod eines Radfahrers

Die Opfer der Kriegsverbrechen in Butscha und vielen anderen Orten der Ukraine brauchen Gerechtigkeit

  • René Heilig
  • Lesedauer: 8 Min.

Ende Februar in der 35 000-Einwohner-Stadt Butscha am nordwestlichen Rand Kiews. Ein Mann fährt auf seinem Fahrrad durch den Ort, er trägt eine helle Hose und einen dunklen Anorak. Er stoppt, steigt ab, schiebt das Rad und biegt nach links in die Uliza Jablunska ein. Dort stehen zwei Panzer - solche, die gewöhnlich von russischen Luftlandetruppen verwendet werden. Sie sollen offenbar einen Militärkonvoi, der zum Stehen gekommen ist, absichern. Was dann genau geschieht, ist auf den Videoaufnahmen, die die »New York Times« am 5. April veröffentlichte, nicht zu erkennen: Eine Wellblechwand verdeckt das Geschehen. Zu sehen ist allerdings, wie ein Panzer feuert. Auch der zweite schickt eine kurze Salve in Richtung eines Strommastes, hinter dem der Radfahrer vermutlich Schutz suchte.

Die Filmsequenz stammt von der ukrainischen Armee. Die hatte kurz vor dem Angriff Russlands eine bereits aufgelöste Drohnen-Truppe reaktiviert. Was zur Aufklärung und Feuerleitung gedacht war, liefert nun politisches und juristisches Beweismaterial. Ein vom Bundesnachrichtendienst ausgewerteter, über Funk geführter Dialog der Panzerbesatzungen kommt hinzu. Und es gibt ein zweites Video, das nach dem Abzug der Russen in der Jablunska-Straße aufgenommen wurde: An einer zerstörten Betonsäule liegen ein Fahrrad und eine Leiche, bekleidet mit einer hellen Hose und einem dunkelblauen Oberteil.

Es gibt weitere verifizierte Aufnahmen von Verbrechen der russischen Angreifer. Ein Video wurde am frühen Nachmittag des 7. März an der Schnellstraße E 40 wenige Kilometer westlich von Kiew aufgenommen. Zu sehen ist ein russischer Panzer, darauf der Buchstabe »Z«. Pkw fahren vorbei, die Fahrer bemerken das Kanonenmonstrum, drehen ab. Ein silbergraues Fahrzeug schafft es nicht. Ein Zivilist steigt aus. Mit erhobenen Händen. Trotzdem wird er erschossen. Man zerrt die Leiche an den Straßenrand, Frau und Kind, die in dem Auto saßen, werden weggeführt. Ein Team des ZDF-Magazins Frontal 21 ermittelte, wer das Mordopfer war: Iuvenko Maksim Sergejewitsch, Ukrainer. Seine Frau Xenia ist Russin, der Sohn Gordej ist sechs Jahre alt.

Wie viele Tote mögen wohl in den verbrannten Wohnblocks von Mariupol oder Charkiw liegen? Inzwischen machen wilde Gerüchte die Runde. Es heißt, die Russen hätten fahrbare Krematorien, um sich heimlich der vielen Toten zu entledigen. Solche derzeit nicht überprüfbaren Nachrichten sollen offenkundig Assoziationen zu Orten des Holocausts heraufbeschwören.

Die Zahl der Leichen, die man nach dem Abzug der Russen in der Kiewer Gegend fand, variiert je nach Bericht. Wie viele es auch sein mögen - jeder einzelne in Butscha und anderen Orten getötete Mensch zählt. Viele fand man auf Straßen, andere in Höfen. Auf den Fotos sind keine Gesichter zu erkennen, wohl aber, dass die Hände einiger auf dem Rücken gefesselt sind.

Allein in Butscha wurden nach offiziellen Angaben fast 340 Tote geborgen, die meisten von ihnen sind demnach in Massengräbern beigesetzt worden. Ukrainische Politiker werfen den Russen gezielte Gewalt gegen Frauen und Mädchen vor. Der Parlamentsabgeordnete Olexij Gontscharenko berichtet in einem auf Twitter veröffentlichten Video von nackten Frauenleichen, die am Straßenrand gefunden worden seien. »Sie verstehen, was passiert ist ...« Die Schänder hätten versucht, die Leichen zu verbrennen, ergänzt Gontscharenko.

Wer genau die Täter sind und was sie zu anscheinend wahllosem Morden veranlasst hat, darüber lässt sich derzeit nur spekulieren. Das ukrainische Verteidigungsministerium hat eine Liste mit Namen russischer Soldaten auf Facebook und Telegram veröffentlicht, die an Gräueltaten in Butscha beteiligt gewesen sein sollen. Dazu heißt es: »Alle Ukrainer sollten ihre Namen kennen.« Die knapp 100 Männer gehören angeblich zur 64. motorisierten Schützenbrigade der russischen Armee. Westliche Aufklärer vermuten diese aber an einem anderen Frontabschnitt.

Und es gibt es auch andere Spuren. Nordwestlich von Butscha liegt der Flugplatz Hostomel. Er gehört zu den Antonow-Werken und spielte gleich zu Beginn des russischen Überfalls am 24. Februar eine wichtige Rolle. Auf ihm wollte man möglichst rasch Truppen und Material landen lassen, um in die ukrainische Hauptstadt vorzustoßen. Doch der Angriff russischer Luftlandetruppen ging schief. Sie wurden weitgehend aufgerieben. Mit im Einsatz waren offenbar Einheiten, die Ramsan Kadyrow zur Verfügung stellte, »Oberhaupt« der russischen Teilrepublik Tschetschenien. Die berüchtigten Banden Kadyrows haben oft bewiesen, dass sie vor keiner Grausamkeit zurückschrecken. Auf seinem Telegram-Kanal schrieb Kadyrow Ende Februar, man sei nur noch 20 Kilometer von den »Nazis in Kiew« entfernt. Und weiter: »Besser, ihr ergebt euch … oder euer Ende steht bevor.«

Haben sich diese Söldnermilizen wie die von Kadyrow in Butscha ausgetobt, nachdem einer ihrer Anführer namens Magomed Tushayev bei Hostomel getötet wurde? Zeugen aus Butscha behaupten, dass bärtige Männer in schwarzen Uniformen von Tür zu Tür gezogen seien. »Sie traten die Tore auf und feuerten sofort mit Schnellfeuergewehren auf die Höfe«, berichtete bereits Anfang März eine Rentnerin der Deutschen Welle. Möglicherweise waren es auch staatlich alimentierte Söldner der russischen Firma Wagner, deren Brutalität aus Syrien und Zentralafrika bekannt ist. »Aus unseren Fenstern sahen wir, wie sie sich in verlassenen, gut eingerichteten Häusern unserer wohlhabenden Nachbarn einquartierten und alles Mögliche heraustrugen«, erzählte eine Rentnerin, die angab, früher als Lehrerin gearbeitet zu haben.

Die Bilder von getöteten Zivilisten in Butscha und aus anderen Orten sorgen seit knapp einer Woche für Entsetzen, täglich gibt es neue Horrormeldungen. Am Donnerstag berichtete die ukrainische Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa auf Facebook, in der Kleinstadt Borodjanka, wie Butscha nordwestlich von Kiew gelegen, aber weiter außerhalb, seien weitere Tote gefunden worden. Allein aus den Trümmern von zwei ausgebombten Wohnhäusern seien 26 Leichen geborgen worden. Wie viele Opfer es insgesamt gegeben habe, sei derzeit schwer abzuschätzen. Zuvor hatte der ukrainische Innenminister Denys Monastyrskyj erklärt, Borodjanka sei eine der am stärksten zerstörten Städte in der Region Kiew. Seit Mittwoch sucht der ukrainische Zivilschutz dort nach Überlebenden und Opfern. Zuvor sei die Siedlung von Minen geräumt worden.

Wenediktowa sagte, man müsse und werde jedes Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit dokumentieren und die Verantwortlichen bestrafen. In Borodjanka habe man auch sexuelle Gewalt bestätigt.

Am Freitag löste wiederum ein Raketenangriff auf einen Bahnhof voller Flüchtlinge im ostukrainischen Kramatorsk Entsetzen aus. Nach Angaben des ukrainischen Sicherheitsdienstes SBU wurden bei dem Angriff 39 Menschen getötet, darunter vier Kinder, und Dutzende weitere verletzt. AFP-Reporter vor Ort sahen mindestens 30 Tote unter Plastikplanen und in Leichensäcken. Auf dem Bahnhofsvorplatz lagen laut AFP die Überreste einer großen Rakete mit der russischen Aufschrift »Für unsere Kinder«.

Der ukrainische Präsident Selenskyj warf Russland in einer ersten Reaktion vor, die Zivilbevölkerung seines Landes »zynisch zu vernichten«. »Dies ist das grenzenlose Böse«, schrieb er auf Twitter. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell erklärte, Moskau wolle offenbar die Flucht von Zivilisten vereiteln.

Die russische Regierung wies hingegen jegliche Verantwortung zurück und beschuldigte die ukrainischen Streitkräfte, den Angriff selbst verübt zu haben, um die Flucht von Bewohnern zu verhindern und sie als »menschliche Schutzschilde« zur Verteidigung ukrainischer Armeestellungen zu missbrauchen. Bei der verwendeten Waffe handle es sich um eine Rakete des Typs »Totschka-U«, die ausschließlich von den ukrainischen Streitkräften genutzt werde.

Russland hat angekündigt, sich militärisch künftig auf die Donbass-Region mit den selbst ernannten »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine zu konzentrieren. Kramatorsk ist Verwaltungssitz der ukrainisch kontrollierten Teile der Oblast Donezk. Kiew und die Regionalbehörden hatten die Bewohner der Region aufgefordert, in Richtung Westen zu fliehen.

Wolodymyr Selenskyj hat die russischen Streitkräfte immer wieder beschuldigt, Völkermord zu begehen - offenkundig vor allem mit dem Ziel, den Westen zum direkten Eingreifen zu bewegen, beziehungsweise zumindest mehr Sanktionen und Waffenlieferungen durchzusetzen. Völkermord wäre aber der vorsätzliche Versuch, eine nationale, ethnische oder religiöse Gruppe zu vernichten. Dies ist bislang nicht erkennbar.

Vieles spricht dafür, dass Gräueltaten Teil einer brutalen Strategie Russlands sind. Also Kriegsverbrechen. Nach den Haager und den Genfer Konventionen, nach dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs und diversen UN-Resolutionen kann es daran auch ohne Wissen um die Täterschaft keinen Zweifel geben. Nüchtern formuliert wurde gegen drei Grundsätze verstoßen. Soldaten haben zwischen Kombattanten und Zivilisten zu unterscheiden, müssen bei Kampfhandlungen die Verhältnismäßigkeit wahren sowie alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen zum Schutz von Unbeteiligten ergreifen. Allerdings lässt das humanitäre Völkerrecht Grauzonen zu.

Obwohl weder Russland noch die Ukraine das Römische Statut ratifiziert haben, ist der Internationale Strafgerichtshof bei Kriegsverbrechen die wichtigste und kompetenteste Untersuchungsbehörde, über die die internationale Gemeinschaft verfügt. Es geht darum, Beweise und Indizien zu sichern, Zeugen zu befragen, Dokumente auszuwerten und alle nur möglichen gerichtsmedizinischen Untersuchungen anzustellen. Unter Einbeziehung Russlands? Das wäre gut, ist aber sicher eine Illusion. Dass die EU eigene Ermittlungen einleitet, ist kaum hilfreich. Moskau wird sie mit dem Argument der Einseitigkeit abweisen.

Die Erfahrungen aus dem Bosnien- wie dem Kosovo-Krieg zeigen, wie wichtig der rasche Einsatz von Forensikern ist - so man zu soliden Anklagen und gerechten Urteilen gelangen will. Doch der UN-Menschenrechtsrat hat zwar vor Monatsfrist die Einsetzung eines dreiköpfigen Teams beschlossen, die Verantwortlichen aber erst am 30. März benannt. Ihr schnelles Agieren ist dringend nötig: Die Täter dürfen nicht anonym bleiben. Sie müssen jeden Tag den Tag fürchten, an dem sie vor ihrem Richter stehen.

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