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Selbstbestimmung nach Interessenlage
Spaniens Regierung verteidigt das Existenzrecht der Ukrainer, aber nicht mehr das der Sahrauis
Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez kann in der Westsahara-Frage im spanischen Parlament nicht auf die Unterstützung der Parteien setzen, die seine Minderheitsregierung unter Führung der sozialdemokratischen PSOE üblicherweise stützen. »Warum verteidigt die Regierung das Existenzrecht des ukrainischen Volkes, aber nicht das des sahrauischen?«, fragte Gabriel Rufián, Fraktionschef der katalanischen Republikanischen Linken (ERC). Er gab die Antwort im Parlament selbst: Marokkos König Mohammed VI. besitze den Schlüssel, um Afrikas Hunger und Verzweiflung von Europa wegzusperren.
Es war eine harte Niederlage Sánchez und dessen Sozialdemokraten (PSOE), als in der vergangenen Woche die Mehrheit des Parlaments seinen Schwenk in der Westsahara-Frage abgelehnt hat. Dass der Sozialdemokrat noch am gleichen Nachmittag, gegen das Parlamentsvotum, nach Rabat flog und seine neue Linie gegenüber dem autokratischen König Mohammed VI. bestätigte, sorgt für große Aufregung. Für Spanien und seine Regierung - aber auch für die Bevölkerung - wird der Alleingang von Sánchez noch teuer werden. Ökonomisch kommt es angesichts extremer Energiepreise zur Unzeit, dass der bisherige größte Gaslieferant Algerien nun die bisherigen Vorzugspreise aussetzen wird. Schon nachdem Marokko einen Brief öffentlich gemacht hatte, in dem sich Sánchez dem Autokraten anbiederte, hatte Algerien angekündigt, die Gaspreise zu überprüfen. Denn Algerien ist nicht nur die Schutzmacht der Westsahara-Befreiungsfront »Polisario«, sondern es ist auch der große Rivale von Marokko in Nordafrika.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Im Westsahara-Konflikt beschuldigt Marokko den Nachbarn Algerien ohnehin längst, die »wahre Konfliktpartei« zu sein. Der Konflikt enthält alle Zutaten für eine Eskalation. Die Polisario hat nun alle Beziehungen zur spanischen Regierung ausgesetzt und die spanische Regierung geht davon aus, dass Algerien die Gaspreise deutlich erhöhen wird. Immer stärker setzt Madrid auf das extrem klimaschädliche und zudem teurere Fracking-Gas aus den USA. Im Februar und März importierte Spanien schon mehr Gas aus den USA als aus Algerien.
Mit ihrem Schwenk in der Westsahara-Frage ist die Glaubwürdigkeit der Sánchez-Regierung national und international auf einem Tiefpunkt angelangt. So hat auch der Koalitionspartner, die Linkskoalition »Unidas Podemos« (UP), ihm diesmal geschlossen vor das Schienbein getreten. Für Podemos ist es nicht nachvollziehbar, dass man einerseits Waffen in die Ukraine schickt, um dessen Selbstbestimmungsrecht zu verteidigen, aber das Selbstbestimmungsrecht der Sahrauis gegenüber Marokko opfert. »Die Menschenrechte dürfen keine Verhandlungsmasse sein«, meint die Podemos-Chefin Ione Belarra. Ohnehin ist unklar, welcher Deal dahintersteckt. Sánchez sprach nur nebulös aus Rabat von einem »historischen Augenblick«, der zur »Sicherung der Interessen, der Stabilität und der Integrität beider Länder beitragen« werde.
Die Aufgabe der bisherigen spanischen Position in der Frage der Entkolonisierung der »letzten Kolonie Afrikas«, wie die Westsahara genannt wird, dürfte für die Zukunft der schwachen Regierung negative Auswirkungen haben. Schon bisher sind in der Koalition immer wieder Widersprüche aufgebrochen, wie an der Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine, die aber noch Teile von UP mitgetragen haben. Die Arbeitsmarktreform nickte UP nur zähneknirschend ab, da sie auf dem Mist der UP-Chefin Yolanda Díaz gewachsen ist - und gegen den Widerstand linker Unterstützer der Regierung im Parlament. Dazu kommen die massiven Widersprüche der UP zu den Sozialdemokraten, was das Versprechen angeht, das Maulkorbgesetz der rechten Vorgänger zu streichen oder die Aufarbeitung der Franco-Diktatur, bei der es ebenfalls bestenfalls in Trippelschritten vorangeht.
Anders als bei der Arbeitsmarktreform konnte sich Sánchez beim politischen Schwenk zur Ex-Kolonie nicht einmal auf rechte Kräfte stützen. Sogar die konservative Volkspartei (PP) stimmte mit UP für einen Antrag, den die Erzfeinde der PP eingebracht hatten. Denn es war die baskische Linkskoalition »EH Bildu« (Baskenland Vereinen) und die katalanische ERC, die als Befürworter einer baskischen und katalanischen Unabhängigkeit hinter dem Antrag standen. Darin wurde verurteilt, dass Sánchez nun die Westsahara Marokko zuschlägt. Die Parlamentsmehrheit forderte von der Regierung eine Lösung auf Basis der Resolutionen der Vereinten Nationen (UN) und der Mission der Vereinten Nationen für das Referendum in der Westsahara (Minurso). Die Mehrheit ist davon überzeugt, dass nur per Dialog und über Verhandlungen eine Einigung erreicht werden könne, die »im Einklang mit dem Völkerrecht« steht, die eine »gerechte, realistische, tragfähige, dauerhafte und für beide Seiten akzeptable politische Lösung für den politischen Konflikt in der Westsahara« bietet.
Der Lösungsweg wurde vor 30 Jahren im Waffenstillstandsabkommen zwischen der Polisario und Marokko festgelegt. Das Referendum, das von Minurso überwacht werden sollte, wurde von Marokko stets systematisch hintertrieben. Immer offener provozierte Marokko auch militärisch, bis die Polisario schließlich vor eineinhalb Jahren wieder zu den Waffen griff. Sánchez hat sich auf den Kurs des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump begeben, der kurz vor seinem Abtritt gegen das Völkerrecht die Souveränität Marokkos über die Westsahara anerkannt hatte. Dass es für die Sánchez-Regierung nun ernst wird, liegt unter anderem daran, dass die Brücken zu Bildu und ERC abgebrochen werden, auf deren Stimmen die Regierung angewiesen ist. Der Dialog mit Katalonien, den Sánchez real nie begonnen hat, wurde praktisch über die Westsahara gleich mit beerdigt.
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