Die Blüte der Chaguar

Indigene Frauen in Argentinien tanken dank Fortbildung in unternehmerischen Aktivitäten Selbstbewusstsein

  • Tom Beier, Salta
  • Lesedauer: 8 Min.

Gleich als wir das erste Mal im Ausstellungsraum der Nichtregierungsorganisation (NRO) in Salta sind und die handgearbeiteten Umhängetaschen, Brotkörbchen und ausdrucksstarken Tiermasken sehen, ist klar: Wo die gemacht werden, müssen wir hin. Marcela Roldán, die Projektverantwortliche für die Kunsthandwerk-Arbeiten der indigenen Frauen im Gran Chaco, der nördlichsten Region Argentiniens, ist zuversichtlich: «Ja, ich werde die indigenen Gemeinden und unsere Projekt-Verantwortliche vor Ort, Claudia Sánchez, über unseren bevorstehenden Besuch informieren. Und in ein paar Tagen fahren wir hin. Ihr könnt euch schon mal auf 40 Grad und Mücken einstellen.»
Prosoco (Soziale Gemeindeprogramme) ist eine breit aufgestellte NRO. Sie unterstützt nicht nur die indigenen Gemeinden im Norden. 1993 wurde sie von dem Pfarrer, Journalisten und Juristen Ernesto Martearena gegründet. Schon in seiner Ausbildung interessierte er sich für soziale Fragen. Prosoco kümmerte sich um Straßenkinder, baute Schulen für Indígena-Kinder auf. Alten-Versorgung und Anti-Aids-Kampagnen waren weitere Schwerpunkte.

Lucrecia und Mikasia präsentieren viele Ausstellungsstücke
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Auch heute noch arbeitet die Organisation in den Bereichen Erziehung, Gemeindeentwicklung und soziales Wirtschaften. Dabei fördert sie etwa Jugendliche in der Stadt Salta, die in den Drogenhandel verwickelt sind, mit Ausbildungsprogrammen. «Seit einiger Zeit kommen Kolumbianer nach Salta und versuchen ein Netz für den Drogenhandel aufzubauen. Dabei versuchen sie auch Jugendliche aus Salta anzuwerben. Ihnen müssen wir durch Ausbildung und Bewusstseinsarbeit eine Alternative bieten», sagt Adriana Pérez, die Präsidentin von Prosoco. Außerdem vergeben wir Mikrokredite an Kleinstunternehmer*innen auf dem Land oder organisieren in einem Armenviertel Gesundheitsversorgung und eine Altentagesstätte.«

Eines ihrer Projekte im Bereich der Gemeindeförderung ist die »Blüte der Chaguar«, ein Name, den die Indígena-Frauen ihrem Kunsthandwerk-Verbund selbst gegeben haben. Angefangen hat alles 2011, als die spätere NRO-Mitarbeiterin Alicia Rivero – in Salta geboren, in Deutschland auf Lokale Entwicklung spezialisiert –, zu Besuch in ihrer Heimatstadt, sich fragte: Wie kann man den von staatlichen Institutionen fast völlig vernachlässigten Indigenen im Gran Chaco zu mehr Einkommen und Würde verhelfen? Die von Padre Martearena in der Gegend gegründete Schule war der Ausgangspunkt. Bis zum heutigen Ausstellungs- und Verkaufsraum in den Räumen von Prosoco war es dann noch ein langer Weg, wie Marcela erzählt. Mit Unterstützung des Weltfriedensdienstes aus Berlin wurde 2013 das Projekt offiziell ins Leben gerufen. Bald gab es 170 Kleinunternehmerinnen, die Kunsthandwerk herstellten, aber nicht wussten, wie man die Preise für die Produkte festlegt, wie man sie vertreibt. Durch Workshops verbesserten die Frauen nicht nur die Qualität ihrer Produkte. In den Fortbildungen lernten die Indígenas auch, die Fasern, aus denen die Taschen und Körbe hergestellt werden, statt in nur drei natürlichen Farben erst in 13 Farben, später in 18 herzustellen. Ihre kulturelle Identität werde dabei stets gewahrt. Nicht Vorschriften werden ihnen gemacht, sondern Vorschläge. Zu berücksichtigen sind etwa die anderen Vorstellungen von Zeit, Gemeinschaft und Handel.

Ein ganz besonderes Problem war für die Frauen, dass in der Hochzeit der Pandemie keine Zusammenkünfte möglich waren. Schließlich ist die Kultur von direktem oralen Austausch geprägt. Prosoco stellte die Ausstattung und das Know-how, damit die Kommunikation digital stattfinden konnte. Nach anfänglichen Vorbehalten gelang es erstaunlich rasch, sich auch auf diesem Weg auszutauschen, in Kontakt zu bleiben, die Gemeinschaft zu pflegen.

Fahrt mit Hindernissen

Drei Tage nach dem ersten Besuch in der NRO werden wir wie vereinbart von Marcela und dem Fahrer Omar Plaza morgens um sechs Uhr abgeholt. Der Weg sei weit, fünf Stunden würde man nach Tartagal, in das Siedlungsgebiet der Pueblos Originarios (Ursprüngliche Völker), schon brauchen. Während der Fahrt erzählt uns Marcela, dass wir zwei Comunidades, indigene Gemeinden, besuchen würden. Die erste gehöre zur Ethnie der Wichi, sie sei arm und die Produkte seien »rustikal«. Preise würden sie noch nicht klar festlegen. Die zweite Gemeinschaft sei ebenfalls eine der Wichi. »Die sind viel besser organisiert, leisten einen Beitrag zu ihren Fortbildungen und fordern sie auch explizit ein«, sagt Marcela. »Das heißt aber nicht, dass alles zum Besten ist in den Comunidades. Oft fehlt es noch an der Basisversorgung mit Wasser oder Strom.«

Wir kommen zunächst gut voran. Auffällig ist: Statt der aufgeräumten Provinzhauptstadt Salta mit ihrem gemäßigten Klima sind wir inzwischen in ländlicher Umgebung mit +. Es ist ein heißeres Klima, die Landschaft flach. Oft ist Großgrundbesitz mit Monokulturen von Soja zu sehen. Gut eine Stunde vor Tartagal stockt der Verkehr auf der Ruta Nacional 34 plötzlich und kommt schließlich ganz zum Stehen. Stau? »Nein«, sagt Omar, »ein Corte, eine Straßensperre von Originarios. Damit versuchen sie soziale Forderungen durchzusetzen.« Da sich nichts bewegt, gehen wir nach vorne. Dürre Äste haben die meist jungen Vermummten auf die Straße gelegt, einer hat eine Zwille. Mitgebracht haben sie die indigene Fahne, die unter anderem Pachamama, Mutter Erde, symbolisiert.

Bald kommt die Polizei und verhandelt, dass in absehbarer Zeit die Straße wieder freigegeben werden soll. Was sie denn fordern, wollen wir von den Blockierern wissen. Einen Sozialplan zur Verbesserung ihrer Beschäftigungssituation, sagen sie. Meist sind das einfache, schlecht bezahlte Tätigkeiten wie etwa das Säubern von Schulen. Besser als nichts. Nach einer halben Stunde geht es dann weiter. Ob ihre Forderungen erfüllt wurden, wissen wir nicht. Vorher hatten wir einige Polizisten in Kampfmontur kommen sehen.

Nach 20 Minuten stehen wir wieder. Ein neuer Corte. »Das ist Alltag hier«, sagt Omar. »Die Originarios hier ganz im Norden werden von der Politik weitgehend vergessen. Kein Wunder, dass sie sich wehren.« Diesmal dauert die Blockade länger. Über eine Stunde. Die meisten Autofahrer steigen aus, man kommt ins Gespräch – und macht Bekanntschaft mit des Volkes Stimme: »Diese Rasse taugt zu nichts. Sie arbeiten nicht und mit 30 sind die schon Großmütter und -väter.« Der Rassismus in der argentinischen Gesellschaft sitzt tief. Meist richtet er sich gegen die Ursprungsvölker. Aber die haben längst ihre Stimme erhoben und begonnen, sich zu wehren und zu organisieren.

Als wir endlich in Tartagal ankommen, ist es spät geworden. María aus der ersten Wichi-Gemeinschaft zeigt uns geschickt, wie man aus der Chaguar-Pflanze die Fäden zieht. Die Pflanze ist eine Agaven-Art, ähnlich wie Sisal. Aus den Fäden wird später das Garn gewonnen, mit dem die Taschen und Körbchen gemacht werden. María spricht leise, Spanisch ist nicht ihre Muttersprache. »Ich muss oft fünf Tage gehen, um die Pflanze zu finden. Früher wuchsen sie hier in der Nähe, aber das ist schon lange her.« Woher sie denn weiß, welche Pflanze das genau ist, aus der man das Garn machen kann, möchten wir wissen. »Das kommt von unseren Vorfahren. Sie haben uns auch gelehrt: Es gibt eine Pflanze, die so ähnlich aussieht. Aber die Blätter reißen, wenn man versucht, aus ihnen Fäden zu ziehen.« Was sie denn für das Brotkörbchen verlangt? »500 oder 700 Pesos«, sagt María, also rund 4,10 Euro oder 5,70 Euro. »Du müsstest schon einen genauen Preis nennen, María«, ermuntert sie Claudia. »Also gut, 700«, sagt María. Gerne kaufen wir das Körbchen und eine Tasche dazu.


Fortbildung mittels digitaler Vernetzung

Marcela mahnt zur Eile, wir verabschieden uns, machen Fotos und fahren weiter zur Comunidad »Kilómetro 6«. Sie liegt an eben dieser Stelle der Ruta Provincial 86. Asphalt gibt es hier nicht mehr. Lucrecia und Mikasia warten schon auf uns hinter ihrem Tisch mit den vielen Ausstellungsstücken. Sofort ergreift Mikasia das Wort mit fester Stimme und gekonnter spanischer Intonation. »Das ist schön, dass ihr zu uns gekommen seid. So könnt ihr unsere Fortschritte sehen. Früher haben wir die Fäden in 18 Farben hergestellt, heute sind es schon 35. Und durch die vielen Fortbildungen können wir unsere Produkte jetzt auch schon auf Messen vorstellen und weiter verschicken. Geholfen haben uns dabei auch andere Gemeinden, die noch etwas weiter sind als wir.« Später erzählt Marcela, dass es ein großer Vorteil ist, wenn die Frauen von ihresgleichen lernen und nicht durch Promotoren (Fortbildern) aus der Stadt. Auch das gelang durch digitale Vernetzung schnell, zumal die Wege in Argentinien oft weit und beschwerlich sind.
»Könnt ihr die Pflanzen nicht selbst hier bei euch anbauen, damit ihr nicht so weit gehen müsst?«, fragen wir nach. »Ja, das haben wir auch schon probiert, aber sie werden nicht so groß.« Ein munterer Austausch entwickelt sich. Lucrecia möchte wissen, wo wir denn eigentlich herkommen. »Aus Deutschland.« »Da soll es schön sein.« »Ja, aber es ist oft kalt.« »Kalt ist es auch in Salta«, sagt Mikasia, »da waren wir auf einer Kunsthandwerks-Ausstellung. Und Lucrecia hatte keine Jacke dabei.« Die beiden Frauen lachen. Sie verstehen sich gut. Und das, obwohl Lucrecia keine Wichi ist, sondern Chorote. »Aber ihr könnt euch in den indigenen Sprachen verständigen?« »Nein«, sagt Mikasia, »unsere Sprachen sind völlig unterschiedlich. Wir müssen schon spanisch sprechen.« Wieder lachen die beiden Frauen.

Wir wollen noch nach Salta zurück, wieder fünf Stunden – wenn es keinen Corte gibt. Die Verabschiedung ist herzlich. Eine Tasche mit ihrem kräftigen Grün und Gelb und den kunstvoll eingearbeiteten kirschkerngroßen Samenkörnern des Jaboncillo-Baums ist besonders schön. »Was soll sie kosten, Mikasia?« »1500 Pesos« (rund zwölf Euro), antwortet sie selbstbewusst. Auch dieses Selbstbewusstsein ist ein Resultat der Arbeit von Cutsaj Lhagüó. So heißt die Chaguar-Blüte, die Namensgeberin für ihr Kunsthandwerk-Projekt, auf Wichi.

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