Mit zweierlei Maß

»NSU 2.0«-Prozess: Ermittlungen gegen Beamte bestenfalls halbherzig geführt

  • Joachim F. Tornau, Frankfurt am Main
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Einsatzleiter wusste genau, was für die Polizei auf dem Spiel stand. »Besondere Sensibilität«, sagt der hessische LKA-Beamte, habe er von dem Mobilen Einsatzkommando (MEK) gefordert, das am 3. Mai 2020 eine Wohnungstür im Berliner Wedding zertrümmerte. »Schusswaffenmaßnahmen mit letalen Folgen«, so drückt es der 45-Jährige aus, sollten unbedingt vermieden werden. Übersetzt: Der Mann, der hinter der Tür lebte und an diesem Abend festgenommen werden sollte, musste den Einsatz überleben. »Ich habe gesagt«, erinnert sich der Polizist am Donnerstag im Frankfurter Oberlandesgericht, »dass wir sonst von der Presse in der Luft zerrissen würden.« Denn dann, erklärt er, hätte der Vorwurf im Raum gestanden, die Polizei habe den einzigen Zeugen beseitigt - in einem Verfahren, in dem viele Spuren in die eigenen Reihen führten.

Es ging um den »NSU 2.0«, um die mehr als 100 Drohschreiben voller rassistischer und sexistischer Beleidigungen, die seit August 2018 unter diesem Label vor allem bei Frauen des öffentlichen Lebens eingegangen waren, viele von ihnen gespickt mit privaten Daten, die zumindest teilweise aus Polizeicomputern stammten. Der Mann aus dem Wedding bedeutete für die Polizei da so etwas wie die Hoffnung auf Erlösung: Der als tatverdächtig ermittelte Alexander M. war kein Polizist, sondern ein arbeitsloser Computerexperte. Seit zwei Monaten steht er in Frankfurt am Main vor Gericht. Als Einzeltäter.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Plastisch und ohne Scheu, auch taktische Einzelheiten des Einsatzes zu offenbaren, erzählt der Einsatzleiter am 13. Verhandlungstag von der Festnahme des 54-Jährigen. »Ich bringe nicht diesen heiligen Spruch ›Dazu darf ich nichts sagen‹«, verkündet der Beamte und schildert, wie sie Alexander M. zunächst mit dem Zünden zweier lauter Böller (»Irritationskörper«) abzulenken versucht hätten, vergeblich allerdings, und wie sie die Tür dann doch einfach mit einer »Oldschool-Ramme« geöffnet hätten. Wie ihnen der Angeklagte mit einer Schusswaffe in der Hand entgegengekommen sei (die sich später allerdings als Schreckschusspistole erwies), sich dann aber recht schnell ergeben habe.

Alexander M. wird deshalb neben den zahlreichen Fällen von Beleidigung, Bedrohung, Volksverhetzung und dem Verwenden verbotener Nazi-Symbole auch Widerstand vorgeworfen. Er hält sich jedoch, wie in allen Anklagepunkten, auch hier für unschuldig. Weil er seine Version der Geschehnisse dem Einsatzleiter im Gerichtssaal aber nicht direkt unter die Nase reiben darf, stellt er schließlich sogar einen Befangenheitsantrag gegen die Strafkammervorsitzende Corinna Distler. Und seine beiden Pflichtverteidiger scheinen vor Pein im Boden versinken zu wollen.

Dass Alexander M. als mutmaßlicher Urheber von Drohschreiben des »NSU 2.0« ermittelt werden konnte, ist einer bemerkenswert akribischen Polizeiarbeit zu verdanken. Erst wurden auffällige sprachliche Parallelen zwischen den Drohnachrichten und Kommentaren festgestellt, die unter verschiedenen Usernamen auf dem rechten Onlineportal »pi-news« gepostet wurden. Dann fiel auf, dass einige dieser Nutzernamen auch auf einer Seite für Online-Schach auftauchten. Und dort hatte Alexander M., der sonst immer nur anonym über den Tor-Browser ins Internet gegangen war, auf digitale Sicherheitsvorkehrungen verzichtet - er konnte identifiziert werden. Später bestätigten Funde auf seinem Computer den Verdacht.

Bei den Ermittlungen in den eigenen Reihen legte die Polizei dagegen eher nicht ganz so viel Akribie an den Tag, wie in der vergangenen Woche die Vernehmung eines Kriminaloberkommissars zeigte. In Wiesbaden, Hamburg und Berlin hatten Polizist*innen die persönlichen Daten der Linke-Vorsitzenden Janine Wissler, der Kabarettistin İdil Baydar und der »Taz«-Kolumnistin Hengameh Yaghoobifarah abgerufen. Alle diese Frauen bekamen danach früher oder später Drohmails des »NSU 2.0«. Bereitwillig aber wurde den Polizist*innen geglaubt, wenn sie sich an die Abfragen partout nicht mehr erinnern konnten oder andere Ausflüchte ins Feld führten.

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Vielleicht aber wird es in der kommenden Woche etwas ungemütlicher für die Polizei: Das Gericht hat mehrere Beamte des ersten Polizeireviers in Frankfurt geladen, wo im August 2018 sehr ausführlich die Daten von Seda Başay-Yıldız und ihren Angehörigen abgerufen wurden. Nur 25 Minuten später ging bei der Frankfurter Anwältin das erste Drohfax des »NSU 2.0« ein, mit ebendiesen Daten. Anders als die Staatsanwaltschaft ist die Nebenklage deshalb nach wie vor überzeugt, dass zumindest in diesem Fall nicht Alexander M. der Absender war. Sondern ein Frankfurter Polizeibeamter.

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