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Lasst uns in Frieden (45): Ein solidarisches Haus
Gedanken eines Hauses zum Thema Krieg und Frieden
Neulich komme ich nach Hause, da guckt mich mein Haus so merkwürdig an. Als ob ich irgendwas falsch gemacht habe. Oder vielleicht ein kompletter Idiot bin. Ich mag so nicht angeguckt werden. Aber ich weiß, dass man sich über Blicke auch schnell mal täuscht. Darum habe ich das Thema offen angesprochen und mein Haus gebeten, sich zu erklären:
Ja was, du kommst einfach so nach Hause, als wäre es dein gottverdammtes Recht, nach einem anstrengenden Tag zu dir nach Hause zu kommen und alles so vorzufinden, wie es dir passt. Dieser Blick hat mich genervt: Ach, was hab ich doch für ›ne hübsche Wohnung und was ist doch das kleine Häuschen drumrum so niedlich! Sag mal guckst du keine Nachrichten? Ist bei dir angekommen, dass Millionen Menschen entweder überhaupt kein Haus mehr haben oder aber ein Haus, in dem kein einziges Fenster mehr drin ist und vielleicht nicht mal mehr alle vier Wände? Findest du, dass du allein auf der ganzen Welt das selbstverständliche Recht hast, in einem niedlichen kleinen Häuschen zu wohnen, das dir alles bietet, wonach deine Bequemlichkeit verlangt?
Es gibt übrigens Artgenossen von dir, die haben längst angefangen, den Kriegsopfern zu helfen, und manche haben sogar Platz gemacht in ihrer Wohnung oder ihrem Haus, damit andere wieder ein Dach über dem Kopf haben. Und was machst du? Du erklärst deiner Frau, warum es Kriege gibt, und gehst zufrieden ins Bett, wenn sie nicht mit Gegenständen nach dir geworfen hat. Hast du dich schon mal gefragt, ob Häuser ihren temporären Inhalt genauso niedlich finden wie umgekehrt? Ob Häuser mit ihren Bewohnern glücklich sind? Oder konkret, ob ich mir in meinem Innern nicht auch was anderes vorstellen oder gar wünschen, ja, aus tiefstem Steinherzen ersehnen könnte als dich unempathische Nuss?!
Damit du es weißt: Wir Häuser leiden mit, wenn unsere Schwestern und Brüder von irgendwelchen geisteskranken Menschen bombardiert werden. Uns ist es nicht egal, dass in Charkiw die Blüte der sowjetischen Moderne, der Konstruktivismus oder, wie du sagen würdest, der Bauhausstil gerade in ein Steinmehlgebirge verwandelt wird. Wir schreien vor Schmerz, wenn die Menschen vor Angst schreiend ihre Häuser verlassen oder aber, weil sie das nicht mehr geschafft haben, unter deren zerstückelten Körpern sterben müssen.
Und ich sag dir noch was: Auch unsere entfernteren Verwandten vergessen wir nicht, seit eure Medien bequem nur noch den Nachbarkrieg übertragen. Wir denken immer noch mit Stolz und mit Wut an die frühislamischen Pfefferkuchenhäuser von Sanaa, die erst von eurem Klimawandel kaputtgeregnet wurden, jetzt von den Raketen eures Lieblingskunden Saudi-Arabien ausgelöscht werden. An die stilvollen orthodoxen Kirchen von Tigray, die in einer Koproduktion von korrupten Separatisten, Truppen eines größenwahnsinnigen Friedensnobelpreisträgers und einer unmenschlichen Nachbardiktatur eliminiert werden. An die Häuser der Bauern und Bäuerinnen von Afrin und den anderen okkupierten Kantonen des nordsyrischen Rojava, zerschossen von deutschen Panzern, in denen türkische NATO-Alliierte saßen und weiter sitzen.
Bist du noch da? Nee, ich frag nur, weil ihr Menschen oft wegrennt, wo nachgedacht wird. Sich gruseln ist ja auch angenehmer. Na dann, grusel dich weiter vor deinem Fernseher. Und freu dich auf zu Hause jeden Abend, wenn du von deinem Bullshit-Job kommst. Nur guck bitte nicht genauer hin im Haus. Wir Häuser sind solidarisch. Ich schick immer mal einen Stein in die Ukraine, ein Stück Regenrinne nach Jemen, eine Türklinke nach Tigray. Du merkst es nicht, und ich kann es geben. Ewig steh ich eh nicht. Spätestens, wenn eure Totrüstung sich ihren Namen verdient hat und Krieg endlich auf der ganzen Welt herrscht, bin ich weg. So lange wünsche ich dir einen geruhsamen Feierabend.
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