Ernst Kahl konnte es anders

Ein freundlich zurück­haltender Provo­ka­teur: Ernst Kahl ist gestorben

  • Niko Daniel
  • Lesedauer: 4 Min.
Zwischen Kinderzeichnung und Altmeisterbild: Ernst Kahl, 2019
Zwischen Kinderzeichnung und Altmeisterbild: Ernst Kahl, 2019

»Wir können auch anders« heißt ein ziemlich genialer Film von Detlef Buck aus dem Jahr 1993, zu dem Ernst Kahl das Drehbuch schrieb. Darin fahren zwei Einfallspinsel und Brüder aus Westdeutschland nach Ostdeutschland, weil sie von ihrer Großmutter ein Haus in Mecklenburg-Vorpommern geerbt haben. Das Problem ist nur: Sie sind Analphabeten und können weder die Straßenschilder noch die Straßenkarten lesen und kommen deshalb nur schwer voran. Ein süßes Roadmovie, das zu einer Krimigroteske wird und wider Erwarten auch noch gut ausgeht – sehr lustig und fein gearbeitet.

Anders als der Wigald-Boning-Film »Die drei Mädels von der Tankstelle« von 1997, zu dem Ernst Kahl ebenfalls das Drehbuch schrieb. Darin spielt Boning einen Millionenerben, der sich erst mal an einer Tankstelle bewähren muss, bevor er das Erbe seiner Mutter antreten darf. Dort arbeiten aber drei Frauen, und er hat doch ein extrem neurotisches Verhältnis zu Frauen im Allgemeinen, hüstel. Es sei abzulehnen, wie hier »mit einem Minimum an geistigem wie inszenatorischem Aufwand eine Art neudeutsche Flachheit zelebriert« werde, urteilte das »Lexikon des Internationalen Films«.

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Licht und Schatten, strahlend oder deprimierend: Man kann sagen, der Satiriker Ernst Kahl konnte auch anders, und dabei konnte er sehr viel: Zeichnen, texten und singen – als autodidaktisches Genie, alles selbst beigebracht, aber dann auch ein bisschen Kunst in Hamburg bei David Hockney studiert (ohne Abitur und ohne Aufnahmeprüfung) und nebenbei als Leichenwäscher gejobbt.

Mit seinem oft als »altmeisterlich« bezeichneten Stil wurde er neben F. K. Waechter, F. W. Bernstein und Hans Traxler, den tatsächlichen Altmeistern der komischen Kunst in der BRD, zum herausragenden Künstler und Zeichner der Neuen Frankfurter Schule aus dem Umfeld der Zeitschrift »Titanic«. Der ehemalige Chefredakteur Hans Zippert urteilt über Kahl: »Er konnte alles. Das Wilde, Dreiste, Schwarze, Altmeisterliche, genauso wie das Liebliche, Harmlose, scheinbar Amateurhafte. Seine Bilder, Cartoons, Comics und Installationen waren eine Kampfansage an eine verblödete Realität. Er veredelte den Kalauer zum Meisterwerk und kalauerte sich durch die Hochkunst.«

1949 geboren und aufgewachsen in der schleswig-holsteinischen Provinz als Sohn eines Sparkassenzweigstellenleiters, erkrankte Ernst Kahl mit vier Jahren an Kinderlähmung und verbrachte fünf Wochen in einem Krankenhaus, wo die einzige Unterhaltung im »Großen Wilhelm-Busch-Album« bestand, das dort herumlag, samt seiner gewalttätigen und dabei lustigen Geschichten. »Ich weiß nicht, ob Busch meine Psyche damals verletzte, nach fünf Wochen jedenfalls wurde ich als geheilt entlassen«, resümierte Kahl in der Zeitschrift »Konkret« zum 150. Geburtstag von Max und Moritz. Es war dasselbe Busch-Buch, aus dem auch sein prügelnder Vater im Kreise der Kinder zu Hause gerne vortrug.

2011 bekam Ernst Kahl dann den Wilhelm-Busch-Preis verliehen, nachdem er schon 2007 den Göttinger Elch, den höchsten deutschen Satire-Preis bekommen hatte.

Ernst Kahl galt als sehr freundlicher und umgänglicher Mann, der als »zurückhaltender, stiller Provokateur« (Wiglaf Droste) in seinen Zeichnungen und Bildern Horror und Albernheit zu morbider Komik kurzschloss, etwa wenn ein kleines Mädchen einem Erhängten ihr Waffeleis anbietet oder wenn ein Waschbär einen Jungen aus seiner Badewanne vertreibt oder Michael Jackson mit seinem Penis Wunden heilen kann. Eine seiner Bilderserien heißt »Vergessene Katastrophen«.

Zur Verdeutlichung von Gewaltverhältnissen benutzte Kahl oft einen schein-naiven Kinderzeichnungsstil und bearbeitete Themen aus Religion, Sexualität und Kolonialgeschichte, gerne auch in Form sprechender Tiere. Unvergessen ist sein Loblied des Pudels: »Der schönste Hund im Ruuuudel ist und bleibt der Puuuudel (...) Von allen die ulkigste Nuuuudel, das ist und bleibt der Puuuudel«, aufgenommen 1996, zusammen mit dem Gitarristen Hardy Kayser für ihr Album »Im Kühlschrank brennt noch Licht«. Darauf findet sich auch eine sehr schöne Ode an den »kleinen Vogel«, der gewarnt wird, seinen Käfig zu verlassen, weil das Leben so gefährlich sei: »kleiner Vogel flieg nicht so weit, wenn es schneit«.

Wie erst jetzt bekannt wurde, ist Ernst Kahl am 5. Juli im nordfriesischen Schwabstedt gestorben. Er wurde 76 Jahre alt.

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