Verhängnisvolle Gleichsetzung

Der russische Krieg in der Ukraine belastet das Gedenken an die Befreiung vor 77 Jahren

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 7 Min.

Die russische Fahne ist eingeholt. Eigentlich weht sie an einem der drei Masten, die an der Torgauer Elbbrücke stehen, neben den Flaggen der USA und der Bundesrepublik. Jetzt sind sie durch bunte Fahnen mit der Aufschrift »Peace« ersetzt. Eine passende Geste, beschwört das Mahnmal doch den »Geist der Elbe«, wie auf einer Tafel steht: ein Appell an die »Menschen aller Nationen«, Differenzen »ausschließlich mit friedlichen Mitteln zu lösen«. Er war eine Lehre aus dem Krieg, der am 25. April 1945 an dieser Stelle mit einer symbolträchtigen Geste endete. Soldaten der Sowjetunion und der USA reichten sich erstmals die Hände. Zwei Wochen später, am 8. Mai 1945, kapitulierte das Naziregime. Der Zweite Weltkrieg war vorbei.

An den Handschlag von Torgau wird eigentlich jährlich mit einem offiziellen Festakt erinnert. Die Veranstaltung zum 77. Jahrestag kürzlich aber fand nicht statt. Torgaus CDU-Rathauschefin Romina Barth sagte sie wegen der »aktuellen Lage« ab: dem Angriffskrieg Russlands in der Ukraine, der die Welt erschüttert und in Torgau das Protokoll durchkreuzte. Es hatte Reden von Vertretern Russlands und der Ukraine vorgesehen. Ein Eklat war absehbar, man zog die Reißleine.

Als Christa Hoffmann davon las, packte sie der Zorn. Sie ist 85 Jahre alt und war an dem denkwürdigen Tag vor 77 Jahren am historischen Ort. Am Vormittag des 25. April 1945 querte die damals Achtjährige, mit ihrer Mutter und drei Geschwistern auf einem Pferdewagen sitzend, die Torgauer Brücke, auf der Flucht vor »den Russen«, von denen sie Schlimmes gehört hatten. Das von den Amerikanern besetzte westliche Ufer erreichten sie mit Not. Kaum, dass sie die Brücke passiert hatten, wurde diese gesprengt. Hoffmann erinnert sich an eine Detonation und einen Ausruf: »Die Brücke ist kaputt.« Auf ihren Trümmern fand Stunden später der Handschlag von Rotarmisten und GIs statt.

Ihr Urteil über »die Russen« revidierten die Flüchtlinge danach in mehrerlei Hinsicht. Hoffmann erinnert sich, wie ihnen Sowjetsoldaten dazu verhalfen, dass sie auf einem Bauernhof nicht mehr in der Scheune schlafen mussten, sondern Zimmer bekamen; sie erzählt auch, wie ein Soldat beim Anblick ihrer Geschwister in Tränen ausbrach und zu verstehen gab, er habe ebenfalls Kinder, die aber tot seien. »Irgendwann dachten wir: So schlecht sind die doch gar nicht«, sagt Hoffmann. Zudem fielen ihr Soldaten auf, die von den Kindern wegen ihres Äußeren als »Mongolen« bezeichnet wurden, wohl aus einer mittelasiatischen Sowjetrepublik stammten und zeigten, dass die Rote Armee aus mehr Nationalitäten als »den Russen« bestand.

Solche Erinnerungen sorgen dafür, dass Hoffmann die Absage des Gedenkens für grundfalsch hält. Sie verurteilt den russischen Angriff auf die Ukraine: »Was Putin da macht, ist der Horror«, sagt sie. Bei den Veranstaltungen zum 8. Mai aber solle all jener gedacht werden, die Deutschland und die Welt vor 77 Jahren von einem faschistischen Regime befreit und »den Zweiten Weltkrieg für uns gewonnen« hätten, darunter Russen, Amerikaner, Franzosen, Ukrainer, Kirgisen und andere. Es gebe »jeden Grund«, den Tag würdig zu begehen, sagt sie und fragt: »Was hat der Tag der Befreiung mit dem heutigen Krieg in der Ukraine zu tun?!«

Nicht alle unterscheiden so zwischen historischem Verdienst und aktuellem Krieg. In Dresden flammte kurz vor dem Gedenktag Streit um ein sowjetisches Ehrenmal auf, das Ende 945 als erstes seiner Art auf deutschem Boden errichtet wurde, Soldaten mit Sowjetfahne und Maschinenpistole zeigt und »ewigen Ruhm« für jene Rotarmisten verspricht, die im Kampf gegen die »deutschen faschistischen Eroberer für die Freiheit und Unabhängigkeit der sowjetischen Heimat gefallen« sind. Das Denkmal »kann nicht bleiben«, meinte ein FDP-Politiker. »Nicht wegen 1945«, fügte er an, sondern »wegen 1953, 1968 und 2022«. Die letzten Zahlen beziehen sich auf den sowjetischen Einmarsch in die CSSR und den aktuellen Krieg in der Ukraine, beide mit Beteiligung der 1. Garde-Panzerarmee, die bis 1993 in Dresden stationiert war.

Rein formal hat das Denkmal mit dieser nichts zu tun; es ist den Gefallenen der 5. Gardearmee gewidmet, die im Frühjahr 1945 im heutigen Sachsen kämpfte. Jenseits von Formalitäten geht es aber um die Frage, ob die Verdienste der Befreier durch spätere Ereignisse, vor allem den aktuellen Krieg, geschmälert werden – und auch darum, inwieweit ein Gedenken an den Sieg von 1945 zur Legitimation heutigen Handelns instrumentalisiert werden kann.

Annekatrin Klepsch will »Siegergesten« am diesjährigen 8. Mai vermeiden, aber auf ein Gedenken nicht verzichten. Die Kulturbürgermeisterin von Dresden wird am Jahrestag der Befreiung bewusst nicht das Ehrenmal besuchen, sondern den Dresdner Garnisonsfriedhof, auf dem Kriegsgefallene bestattet sind. Die Linkspolitikerin und die grüne Umweltbürgermeisterin Eva Jähnigen wollen ein Zeichen setzen an einem Tag, mit dem man sich in Sachsen und dessen Landeshauptstadt schon schwer tat, als Russland noch keinen Krieg in der Ukraine führte. Vorstöße im Landtag, diesen zum Feiertag zu machen, hatten nie Erfolg. Es gebe, sagt Klepsch, ein »grundsätzliches Hadern mit dem Datum«. Das wird sich, so steht zu befürchten, im Licht der aktuellen Ereignisse weiter verstärken.

Sie dürften auch Folgen für den Umgang mit Erinnerungsorten wie dem Sowjetischen Ehrenmal haben. Mancher wünscht, es mit einer Tafel zu versehen, die Hintergründe zu Entstehung und Anliegen erkläutert. Klepsch schlägt vor, es »neu zu befragen«, wie es in der Einladung zu einer Podiumsdiskussion über das Denkmal am 8. Mai heißt. Der Krieg in der Ukraine, heißt es dort, sei Anlass für eine »Neuinterpretation postsowjetischer Geschichtsnarrative und der damit einhergehenden Symbolik von Denk- und Erinnerungsmalen«. Ein Denkmalssturm aber stehe in Dresden nicht an, betont Klepsch – im Gegenteil. Das Kulturamt plant vielmehr, das Ehrenmal sanieren zu lassen. 2025, zum 80. Jahrestag der Befreiung, soll es fertig sein. Ob der Stadtrat die nötigen 120 000 Euro aber auch vor dem Hintergrund des Krieges bewilligt, ist offen.

Auch anderswo stellt sich die Frage, wie der Krieg die Erinnerungspolitik beeinflusst. Ein Beispiel: die Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain. Sie erfuhr schon bisher weniger Aufmerksamkeit, als es dem Schicksal der im dortigen Kriegsgefangenenlager verstorbenen 25 000 Menschen angemessen wäre. Das hat viele Gründe. Die inhaftierten Soldaten waren eine lange kaum gewürdigte Gruppen von NS-Opfern. Auch ist die Gedenkstätte schwer zu erreichen. Nun könnte sich der Krieg als weitere »Hypothek« erweisen, fürchtet Leiter Jens Nagel. Zwar waren in Zeithain auch Italiener interniert. Die bei weiten meisten aber kamen aus der Sowjetunion, deren Insignien auch heute noch das Erscheinungsbild der Gedenkstätte prägen. Die wiederum werde »oft verkürzend mit Russland gleichgesetzt«, sagt Nagel – was jetzt zum Problem werden könnte.

Es wäre insofern eine bittere Ironie der Geschichte, als man sich gerade in Zeithain seit Jahren bemüht hat, der irrigen Gleichsetzung zwischen Roter Armee und Russen entgegenzuwirken. So wurden zu Veranstaltungen anlässlich der Befreiung des Lagers am 22. April 1945 bewusst stets auch Vertreter aus der Ukraine und Belarus eingeladen, sagt Nagel. Diese Länder hätten noch weit schlimmer unter dem deutschen Angriffskrieg und der Besetzung gelitten als Russland.

Dass jetzt am 8. Mai trotzdem zuerst an Russland gedacht wird und infolge dessen der russische Krieg in der Ukraine für derartige Verunsicherung sorgt, hat mehrere Gründe, meint Nagel. Ein formaler: Die Vereinbarung über Erhalt und Pflege von Kriegsgräbern haben die Bundesrepublik und Russland abgeschlossen. Womöglich deshalb weht an Gedenkorten wie in Torgau nur die russische Fahne. Russland wiederum, sagt Nagel, habe diesen Anspruch auf »Alleinvertretung« gern angenommen, und andere postsowjetische Staaten hätten Russland »zu viel Raum gelassen«. Sie seien künftig »gut beraten«, das Thema stärker für sich zu besetzen.

Wie das gelingt und wie sich das Gedenken rund um den 8. Mai in Deutschland entwickelt, bleibt abzuwarten. In Zeithain gab es, anders als in Torgau, auch in diesem Jahr einen offiziellen Festakt. Es sprachen eine Ministerin und eine Vizepräsidentin des Landtags. Vertreter von Russland und Belarus waren nicht eingeladen: »Für offizielle Kontakte gibt es derzeit keine Grundlage«, sagt Nagel. Der Opfer wurde dennoch gedacht – was deren Nachkommen würdigen. »Herzlichen Dank, dass sie auch in einer so schwierigen Zeit der eingeschlagenen Richtung treu bleiben«, schrieb die Nichte eines in Zeithain ums Leben gekommenen weißrussischen Rotarmisten. Sie ergänzte: »Wir alle auf dem Globus brauchen FRIEDEN, und deshalb müssen wir immer die Erinnerung an die Opfer bewahren, die der Krieg der Menschheit bringt.«

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