Das Unbehagen mit den Geschlechtern

Gefühl, Fiktion, Realität: Die Philosophin Kathleen Stock versucht, Klarheit in die Debatte um Transsexualität und Geschlechtsidentität zu bringen. Nach ihrem Rückzug von der Universität in Sussex ist nun ihr umstrittenes Buch »Material Girls« auf Deutsch erschienen

  • Theodora Becker
  • Lesedauer: 8 Min.
In ihrem Buch „Material Girls“ plädiert Kathleen Stock dafür, die unterschiedlichen Interessen von Frauen, Männern, Transfrauen und Transfrauen ernstzunehmen.
In ihrem Buch „Material Girls“ plädiert Kathleen Stock dafür, die unterschiedlichen Interessen von Frauen, Männern, Transfrauen und Transfrauen ernstzunehmen.

Kürzlich war in einer schottischen Boulevardzeitung ein Bericht über einen Exhibitionisten zu lesen, der sich vor Gericht verantworten musste. Es handelte sich um einen ehemaligen Soldaten, der bereits wegen zahlreicher Übergriffe, unter anderem auf ein minderjähriges Mädchen, verurteilt und als »sex offender« registriert war. Auf den beigefügten Fotos (britische Boulevardzeitungen sind da nicht zimperlich) war eine männliche Person zu erkennen. Der Artikel aber verwendete durchgehend das weibliche Pronomen und den weiblichen Namen des Mannes, der offenbar in der Zwischenzeit ein »gender recognition certificate« erhalten hatte und vor dem Gesetz als Frau gilt. Das klang so: »Eine in Glasgow geborene Triebtäterin gab zu, ihren Penis entblößt und ein Sexspielzeug verwendet zu haben, als sie in der Öffentlichkeit masturbierte.«

In dieser Geschichte ist alles vereint, was einige Feministinnen derzeit alarmiert. Die Formulierungen des Artikels erzeugen zunächst eine kognitive Dissonanz, indem die Pronomen der weiblichen Identität der beschriebenen Person folgen, während diese dem Leser zugleich in jeder Hinsicht als männlich erscheint – und darüber hinaus, gerade für das weibliche Geschlecht, womöglich als gefährlich. Solche Sprachregelungen drohen, so befürchten es Kritiker, relevante Unterschiede in der Realität nicht mehr formulierbar zu machen: Etwa den, dass weibliche im Gegensatz zu männlichen Vergewaltigern eine Rarität sind. Oder dass Frauen anders als Männer keinen Penis haben (von sehr seltenen Fällen von Intersexualität abgesehen und wenn sie sich nicht operativ einen angeschafft haben). Zum anderen ergibt sich aus dieser Geschichte die praktische und für das Leben von einigen Frauen womöglich nicht unwichtige Frage, ob diese Person, sollte sie zu einer Haftstrafe verurteilt werden, in ein Frauengefängnis kommen sollte.

Streitfall Transsexualität

An Fällen wie dem eingangs geschilderten entzündet sich seit einigen Jahren in Großbritannien eine Debatte um die geplante Reform des »Gender Recognition Act«, des britischen Transsexuellengesetzes. Im Kern geht es darum, dass für die rechtliche Anerkennung eines Geschlechtswechsels keine psychologische und medizinische Begutachtung und keine vorausgehende Phase des »Lebens im anderen Geschlecht« mehr notwendig sein sollen. Stattdessen soll es ausreichen, wenn die betreffende Person erklärt, dass sie sich als Frau beziehungsweise Mann »fühlt«, was unter dem Schlagwort »Self-ID« firmiert. Dies folgt der Vorstellung von einer inneren »Geschlechtsidentität«, über die nur das Individuum Auskunft geben könne und die nicht an objektivierbaren medizinischen oder psychologischen Kriterien festgemacht werden könne. Das zielt auf eine Entpathologisierung der Transsexualität ab.

Dieses Anliegen ist verständlich, wirft aber auch Probleme auf, wie an dem zitierten Fall sichtbar wird. Befürworter der Gesetzesänderung werfen den »genderkritischen« Feministinnen, die sich bei ihrer Kritik unter anderem auf solche Fälle beziehen, vor, »transphob« zu sein. Sie würden moralische Hysterie verbreiten und Geschlecht als eine normative Kategorie behaupten, deren Kriterien sie repressiv festlegten, indem sie sich weigerten, anzuerkennen, dass »Transfrauen Frauen sind«. Damit leugneten sie die »Existenz« von Transpersonen oder wollten sie gar »auslöschen«. Genau diese Vorwürfe bekam unter anderem die britische Philosophin und Feministin Kathleen Stock zu hören. Sie gipfelten in einer regelrechten Hasskampagne, die dazu führte, dass sie im vergangenen Herbst ihre Professur an der Universität Sussex aufgab.

Eines der corpus delicti ihrer Denunziation als »transphob«, ihr im vergangenen Jahr erschienenes Buch »Material Girls«, ist nun ins Deutsche übersetzt worden. Die Lektüre sei jedem empfohlen, der verstehen möchte, auf welchen Theorien diese Vorwürfe basieren, und worum es in diesen, als Debatten eher höflich umschriebenen, Kämpfen um Geschlecht, Identität und Anerkennung eigentlich geht. Denn Stock sortiert darin – gemäß der Methode der analytischen Philosophie – erst einmal die Begriffe. Sie erwägt verschiedene Ansätze zur Definition von »Frau«, »Geschlecht« und »trans« und versucht, den verschiedenen Theorien zu »sex« und »gender«, zu biologischem, sozialem oder innerlich empfundenem Geschlecht, einen kohärenten Sinn abzugewinnen.

Solche Begriffsarbeit ist die Voraussetzung, um über theoretische und praktische Fragen der Geschlechtlichkeit überhaupt sinnvoll streiten zu können. Und genau darum geht es ihr: Über diese Fragen eine sachliche Auseinandersetzung zu führen. Denn natürlich bestreitet sie nicht die Interessen und Rechte von Transpersonen, in gewisser Hinsicht als Angehörige des angenommenen Geschlechts behandelt und wahrgenommen zu werden. Aber wie weit geht dieses Recht und gibt es konfligierende Rechte? Und auf welche Weise sollte man verstehen, was bei einem Geschlechtswechsel genau passiert (und was nicht)? Und bedeutet die Anerkennung dieser Rechte, dass die geschlechtliche »Identität« einer Person unhinterfragbar ist und man folglich schon Kinder durch Hormongaben in ihrer »Transsexualität« bestärken sollte? Muss man nicht im Sinne der Betroffenen auch nach den Ursachen von geschlechtlicher Dysphorie fragen, anstatt sie schlicht hinzunehmen?

Fiktion und Realität

Im Zentrum von Stocks kritischer Untersuchung steht eben die seit einigen Jahren virulente Vorstellung einer inneren, nur dem Individuum zugänglichen »Geschlechtsidentität«, die als fundamentaler Bestandteil der Persönlichkeit zu begreifen sei. Auf sie wird zunehmend in Gesetzestexten und juristischen Entscheidungen rekurriert und sie droht dort die Bezugnahme auf das angeborene Geschlecht abzulösen. Stock argumentiert dagegen zunächst für die Realität der biologischen Zweigeschlechtlichkeit und für deren soziale Relevanz. Sie verweist vor allem auf die Medizin und den Sport, wo körperliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern eine Bedeutung haben, die nicht allein auf soziale Prägung zurückgeführt werden kann.

Ohne den Verweis auf biologische Geschlechtsunterschiede wäre nach Stock auch die Unterdrückung des weiblichen Geschlechts historisch nicht zu verstehen. Das heißt freilich nicht, dass sie unmittelbar und also ohne gesellschaftliche Vermittlung daraus folgte oder gar dadurch legitimiert wäre. Aufgrund dieser sozialen Relevanz brauche man Begriffe, die diesen Unterschied bezeichneten: Stock schlägt »Frau« und »Mann« vor. Für die Frage der Transgeschlechtlichkeit bedeutet das Festhalten am biologischen Unterschied zunächst, dass ein Wechsel des Geschlechts im strikten Sinne nicht möglich ist: Man kann den eigenen Körper zwar dem des anderen Geschlechts angleichen und die soziale Rolle zu wechseln versuchen, aber in vielfacher Hinsicht bleibt der Körper einer des endogenen Geschlechts und auch die Geschichte und die Erfahrungen des Individuums (und anderer mit ihm) werden dadurch nicht ungeschehen gemacht. Transfrauen sind keine Frauen, aber Stock akzeptiert, dass sie auch nicht einfach nur Männer sind, sondern in mancher Hinsicht eine eigene Kategorie bilden.

Die rechtliche Anerkennung der gewünschten geschlechtlichen Identität sei, so Stock, daher nicht als Feststellung einer Realität zu begreifen – »diese Person ist eine Frau« –, sondern als juristische Fiktion: Diese Person ist in allen (oder einigen) relevanten Hinsichten wie eine Frau zu behandeln. Ein solches »Eintauchen in eine Fiktion« finde auch statt, wenn man transgeschlechtliche Menschen (die man als solche erkennt) mit dem gewünschten Pronomen adressiert, was Stock befürwortet. Ihr geht es nicht darum, respektlos zu sein oder zwanghaft auf das biologische Geschlecht zu verweisen, aber sie beharrt darauf, dass es in bestimmten Fällen notwendig sein kann, dies zu tun. Dies als »hate speech« zu diffamieren, weicht nicht nur jeden Begriff von Gewalt auf, sondern stellt selbst eine herrschaftliche Praxis dar, um eine Fiktion als verbindlich durchzusetzen.

Widerspruch der Geschlechtsidentität

Vor allem kommt die Idee der »Geschlechtsidentität« und die darauf beruhende Vorstellung von Transgeschlechtlichkeit ohne eine, mindestens negative, Referenz auf das biologische Geschlecht gar nicht aus: Wie soll man eine »nicht übereinstimmende Geschlechtsidentität« haben, wenn es nichts gibt, womit sie in Konflikt stehen könnte? Die Idee einer nur dem Individuum zugänglichen, innerlich fühlbaren »Geschlechtsidentität«, die wahlweise von Geburt an feststehend oder fluide sein soll, aber in jedem Fall vom Einzelnen eindeutig gefühlt wird, bleibt ohne Bezug auf überindividuelle, auch von Dritten beobachtbare Tatsachen bedeutungslos. Was soll es heißen, sich »als Frau« zu fühlen, wenn damit keine wahrnehmbare Entäußerung verbunden ist? Die These muss entweder mystische Annahmen über »weibliche« Gehirne in männlichen Körpern machen, die sich selbst unmittelbar als weiblich wissen, oder aber das soziale Geschlecht mit dem biologischen kurzschließen: Der Wunsch, in der anderen Geschlechtsrolle zu leben, sei gleichbedeutend damit, im »falschen« Körper geboren zu sein. Aber damit scheint der biologische Determinismus, der Frauen qua Geschlecht auf eine bestimmte soziale Rolle festlegt, eher bestärkt als geschwächt.

Stock schlägt dagegen vor, Transgeschlechtlichkeit nicht als schlichte »Identität«, sondern als eine unbewusste »Identifizierung« mit Aspekten des anderen Geschlechts zu verstehen, die sich biografisch entwickeln und sehr unterschiedliche Gründe haben kann: Als den mehr oder weniger stark ausgeprägten Wunsch, dem anderen Geschlecht anzugehören. Der kann dazu führen, eine vollständige Geschlechtsumwandlung, inklusive Hormoneinnahme und Operationen anzustreben. Dieses Verständnis erlaubt es, eine Vielzahl an biografischen und psychischen Ursachen dieser Identifizierung anzunehmen und der Konflikthaftigkeit jeder Geschlechtsentwicklung Rechnung zu tragen. Dies ist besonders angesichts der Zunahme weiblicher (lesbischer) Jugendlicher, die sich als »trans« identifizieren und den immer jüngeren Konsumenten von Geschlechtshormonen von Bedeutung. Vielfach mag die Ursache der transsexuellen Identifizierung eher ein Unbehagen an der dem eigenen Geschlecht zugeordneten Rollenerwartung zu sein als eine genuine Identifikation mit dem anderen Geschlecht.

Was heißt das nun für den eingangs erwähnten Fall? Erst einmal nicht mehr, als die Probleme, die in der juristischen Möglichkeit des Geschlechtswechsels liegen, anzuerkennen und die unterschiedlichen Interessen von Frauen, Männern, Transfrauen und Transmännern ernstzunehmen, anstatt sie durch begriffliche Neudefinitionen zum Verschwinden bringen zu wollen.

Kathleen Stock: Material Girls. Warum die Wirklichkeit für den Feminismus unerlässlich ist. Edition Tiamat, 384 S., br., 26 €.

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